Rhythm Changes - Jazz Utopia

Bericht von einer Konferenz in Birmingham

WDR 3, 03.06.2016

Guten Abend und herzlichen willkommen bei WDR 3 Jazz & World sagt Michael Rüsenberg.
Mit einem Bericht von der 4. rhythm changes Konferenz, diesmal in Birmingham:
Das Thema: „Jazz Utopia“.

JACOB KARLZON Utopian Folksong 5:55

MODERATION
Im Jahre 1516 erscheint „Utopia“, das bedeutendste Werk des englischen Gelehrten und Parlamentsmitgliedes Thomas Morus (1478-1535).
BCU500 Jahre später nimmt rhythm changes - eine zwischen Birmingham und Amsterdam pendelnde Jazzkonferenz - den runden Geburtstag zum Anlass, den schillernden Titel auch auf unsere kleine Welt anzuwenden:vier Tage im April 2016, in rund 100 Vorträgen, fragt rhythm changes an der Birmingham City University also nach dem Utopischen im Jazz.
Jazz Utopia.
Welche Musik passt dazu in dieser Sendung?
Anders gefragt: wieviele Jazz-Stücke tragen „Utopia“ in ihrem Titel?
Ich habe meine private Datenbank befragt. Darin sind gut 2.600 CDs archiviert - nicht die ganze Jazzgeschichte, aber doch ein guter Anteil der letzten Jahrzehnte.
2.600 CDs enthalten - grob gerechnet - rund 25.000 Jazzstücke.
Und, schätzen Sie mal: in wievielen davon tauchen die Silben von „u-to-pia“ auf?
In zweien, ich wiederhole: in zwei Stücken.
In einem von Pat Metheny, 1996, und in obigem Stück des schwedischen Keyboardspielers Jakob Karlzon aus dem Jahre 2010: „Utopian Folksong“.

AMOK AMOR Als Sozialist geboren 6:54

MODERATION
Das war einer der Höhepunkte beim Moers Festival 2016: das Quartett Amok Amor.
Nicht das Moers Festival im Besonderen, sondern europäische Jazzfestivals allgemein waren das Thema von Tony Whyton.
Bis vor kurzem war der Jazzforscher an der Universität Salford, jetzt gehört auch er zum Team an der Birmingham City University.
Vier Vorträge habe ich für diese Sendung ausgesucht. Gehört habe ich bei rhythm changes vier mal so viel - die anderen aber verworfen:
sie waren nicht gut genug, oder nur für Spezialisten von Interesse.
Wir werden in WDR 3 JAZZ AND WORLD etwas erfahren über „Das Utopische bei Thelonious Monk“, über „Jazz & Tod“ und schließlich:
einen renommierten Improvisations-Forscher kennenlernen.
Doch zunächst Tony Whyton:

RC WhytonIch sehe das Utopische auf sehr verschiedenen Ebenen.
Man kann es genießen, erträumen, herbeifantasieren -
Utopia kann aber auch eine Form der Kritik sein; eine Art über die Welt, so wie sie ist, nachzudenken.
Ob man sich überhaupt eine andere Welt vorstellen kann - Utopia
als Sozialkritik.
Festivals bieten dafür in vielerlei Hinsicht Gelegenheiten. Sie sind flüchtige Ereignisse, sie beanspruchen nur einen bestimmten Zeitraum, oft aber weist ihre Wirkung über ihren Ort hinaus.
Besucher können während dieser knappen Zeit auf die Idee kommen:
„Mensch, so habe ich meine Umwelt ja noch gar nicht gesehen!“
Es gibt in Europa faszinierende Beispiele von Festivals, die sich dem jeweiligen Kulturerbe stellen.

MEDUSA BEATS Calligula 5:33

MODERATION
Noch ein Höhepunkt vom Moers Festival 2016: das Medusa Beats Trio (Benoit Delbecq - p, Petter Eldh - b, Jonas Burgwinkel - dr).
Ohne polemisch wirken zu wollen: das „Utopische“ dieses Festivals ist ganz sicher seine unsichere Zukunft, und sein Ort - eine frühere Tennishalle - ist sicher keine location im Sinne irgendeines „Kulturerbes“, wie es Tony Whyton von der Birmhingham City Unversity für viele europäische Festivals vor Augen hat.

TONY WHYTON
Jazz ist ungeheuer anpassungsfähig, das macht seine Attraktivität aus. Jazz hat ein globales Ziel, kann sich aber regional auf das jeweilige Kulturerbe einstellen.
In Bosnien-Herzegowina mag das Idee der Aussöhnung sein, in Molde, Norwegen, die Einbettung in die Landschaft, oder der Mythos des Nordens, oder die Fjorde als Orte des Festivals.
Die Anpassungsfähigkeit des Jazz ist groß.
Das trifft in vielerlei Hinsicht auch auf die Musiker zu. Ihr Handeln ist sozial relevant.
Die Festivalprogramm mögen sich manchmal ähneln, es kann vorkommen, dass die selben Künstler auf verschiedenen Festivals spielen - aber wie sie vom Publikum angenommen werden, die Funktion ihrer Musik hängt sehr vom jeweiligen Kontext ab.

BOJAN Z./NILS WOGRAM No. 9
, 6:39

MODERATION
Bojan Z. - Pianist aus Serbien, Nils Wogram - deutscher Posaunist, seit langem in Zürich lebend, mit einem Ausschnitt aus ihrem Album „Housewarming“.
Beide spielen Anfang November 2016 beim Jazzfestival in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina. Wogram zum zweiten Mal, Bojan Z. zum fünften Male.
Das Festival, gegründet 1997, präsentiert ein attraktives, internationales Programm. Und, wer die originellsten Jazzfestival-Plakate sucht - wird sie in Sarajevo finden.

TONY WHYTON
Ein Beispiel, das ich in meinem Vortrag nenne, ist das Jazzfestival in Sarajevo. Es ist nach dem bosnischen Bürgerkrieg entstanden.
Jazz sieht der Festivalleiter auf der einen Seite als Moment der Befreiung, auf der anderen Seite als Symbol des kulturell Anderen.
Es kommen verschiedenste Künstler in die Stadt.
Sie bieten den Bürgern nicht nur eine Chance zur Aussöhnung, eine Chance, die Wunden, die der Krieg gerissen hat, zu heilen.
Es geht ihm auch um die Idee einer besseren Zukunft. Und dafür ist Jazz ein ideales Mittel.

JULIAN LAGE Supera 4:02

MODERATION
Auch der amerikanische Jazzgitarrist Julian Lage spielt Anfang November mit seinem Trio beim Jazzfestival Sarajevo.
Der britische Jazzforscher Tony Whyton abschließend über ein neues Forschungsprojekt namens CHIME - vollständig und übersetzt:
„Kulturelles Erbe und Improvisierte Musik auf europäischen Festivals“.

TONY WHYTON
Die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe kann sich sehr unterschiedlicher Themen annehmen.
In Sardinen gibt es z.B. ein Festival, das sich um Landschaftspflege kümmert. Es kann um die Frage des Post-Kolonialismus gehen.
Oder, nehmen wir z.B. das North Sea Festival, das Musiker aus Curacao präsentiert, Musiker aus der früheren niederländischen Kolonie.
Und fragt, welche Rolle dem Jazz dabei zukommt.
Das ist ein unglaublich reiches Arbeitsfeld, den Charakter der jeweiligen Festivalorte zu erfassen und die Frage zu beantworten, was Jazz für diese Orte bedeuten kann.

CLAUDIO SANNA Zisca 5:17

MODERATION
Apropos Sardienien: das ist ein Musiker aus Sardinien: der Pianist Claudio Sanna, mit einem Stück aus seinem Album „Ammentos“.
WDR 3 JAZZ AND WORLD, mit einem Bericht von der 4. rhythm changes Konferenz im April, an der Birmingham City University.

HANS KOLLER Ohr/Uhr 5:14

MODERATION
Das klingt schon „Monk-ish“, ohne von Thelonious Monk zu sein.
„Ohr/Uhr“, von Hans Koller für die NDR Big Band.
Dieser Hans Koller ist Pianist, 45 Jahre alt, stammt aus Bayern und lebt seit 25 Jahren in London.
Er ist also allenfalls vom Namen zu verwechseln mit dem 2003 verstorbenen Namensvetter, und der war Saxophonist aus Österreich.
Hans Koller, der jüngere, unterrichtet an der Birmingham City University, sein Thema bei rhythm changes:
„Das utopische Potenzial in der Musik von Thelonious Monk“.
Und hier ahnt man schon eine Lesart des Begriffes „Utopie“, die wenig gemein hat mit dem utopischen Staat von Thomas Morus vor 500 Jahren.

HANS KOLLER
RC Koller
Ich nehme da Steve Lacy als Inspiration, der gesagt hat: „The Land of Monk“.
Das ist wirklich ein Land, das man besuchen muss, das man erleben muss, das man nicht von zuhause aus, im Sessel, schön erleben kann. Sondern man muss wirklich dahin gehen. Ja, diese utopische Idee, da passieren eben andere Dinge. Und darauf muss man vorbereitet sein, sonst klingt´s nicht gut.
Sie haben einen schönen Vergleich gebracht: eine Zitat von Steve Lacy, wir haben es gerade gehört, und eines von Goethe. Können Sie die beiden noch einmal kombinieren?
Naja, der Goethe, ich weiss nicht, ob der jetzt wirklich korrekt ist. Aber er geht ungefähr so: „Willst den Dichter du verstehen, musst du in sein Lande gehen.“
Ein schöner Satz, der inspiriert und animiert, das Land eben richtig zu besuchen. Das heisst in meinem Falle jetzt: wirkliche alle Thelonious-Monk-Stücke zu lernen, from memory, also ohne die zu lesen, ohne lead sheet, die Sachen noch einmal genau studieren. Im Kollektiv; mit dem Saxophonisten Martin Speake mache ich das seit fast zwei Jahren jetzt. Wir spielen jeden Monat im Vortex, in London. Und wir gehen durch das ganze Repertoire. „Brillant Corners“ z.B., Sachen, die er nie live gespielt hat, die haben wir wirklich genau zusammen studiert und diskutiert, wie wir das spielen, auch ohne Piano, weil ich ja Posaune in dieser Gruppe spiele.
Sie sind vom Piano zur Posaune gewechselt und spielen als einer der wenigen Monk auf der Posaune. Das muss doch eine unglaubliche Herausforderung sein.
Das Modell ist Roswell Rudd, der das in den 60er Jahren gespielt hat. Ich spiele valve trombone, die Linien sind nicht ganz so schwierig auf dem Euphonium oder der Ventil-Posaune, weil ich relativ spät damit angefangen habe damit. Man muss aber auch dazu sagen: ich spiele ja nicht die Lennie Tristano- oder Charlie Parker-Linien, sondern Monks Musik hat ja diesen unglaublichen Platz, es sind ja nicht diese endlosen Linien. Mit ein paar Ausnahmen wie z.b. „Skippy“  oder „Works“, das sind lange Linien. Aber sonst, „Evidence“ ist ein gutes Beispiel - das sind ja nur ein paar Noten. Sieht erst einfach aus, ist eine andere Art von Virtuosität. Das ist nicht die digitale Virtuosität, deshalb steht er ein bisschen abseits vom Mainstream-Bebio, würde man fast sagen können.
RC koller monkAber noch einmal, was ist das Utopische an Monks Musik?
Utopie ist ja die Beschreibung eines kommenden Zustandes. Und wenn wir über Monk sprechen, sprechen wir über das, was wir kennen, was bereits aufgenommen worden ist. Was ist das Utopische, was steckt darin, was noch nicht realisiert ist?

Eine gute Frage. Ich würde sagen: Monk ist sehr, sehr zeitgenössisch, und er erinnert uns daran, auch das Neue hat eine Relation zum Alten. Das Typische ist, man sieht diese pre-Bebop, also die Vor-Bebop-Elemente, im stride und vor allem in der Art, wie der Groove gespielt wird, wie die swingtime gespielt wird. Das sind einfach Sachen, die sind wichtig heute und wichtig auch für die Zukunft, wie seine Ideen über Form. Wie kreativ er mit Songform ist, habe ich erklärt; da ist Material für die Bridge schon in der A-Section, z.B. „Epistrophy“, innerhalb der A-Form ist da ein Spiegel, wie sich das rumdreht, wie er in den zwei Takten der Bridge die A-Section schon wieder hat.
Also er ist da unglaublich kreativ und fantasievoll - das ist Zukunftsmusik. Wie er aus den Restriktionen dieses neue Material schafft.
Der zeitgenössische Jazzmusiker muss damit konfrontiert sein, wie zeitgenössisch Monk ist, finde ich.
Die Erfahrung jetzt, fast alle 70 Stücke auswendig zu können und die zu spielen, man kommt vielleicht doch an den Punkt, wo man denkt: ich möchte jetzt ein bisschen Kenny Wheeler hören, sogar Mozart, das romantische Element.
Obwohl ich finde: Monk ist romantisch, es ist unglaubliche Musik, aber es ist nur eine Musik. Und es gibt mehr auf der Welt als nur Thelonious Monk. Man muss sich davon auch wieder befreien, denke ich.
Und das hat Steve Lacy auch durcherlebt. Aber ich bin im Augenblick sehr dafür, dieses Land wirklich zu erforschen. Eines Tages möchte ich aber auch wieder weiter ziehen.

STEVE LACY Reflections, 3:28

MODERATION
„Reflections“, Steve Lacy, Sopransaxophon, spielt Thelonious Monk, auf dem Willisau-Festival in der Schweiz, 1992.

LOUIS ARMSTRONG When the Saints go marching in, 2:43

MODERATION
Das ist der wohl berühmteste Song aus einem berühmten Zeremoniell, nämlich der Jazz-Beerdigung in New Orleans, in seiner berühmtesten Fassung:
„When the Saints go marching in“ von Louis Armstrong.
Der Song steht hier, weil er Bezug hat zu einem der farbigsten Beiträge auf der Konferenz rhythm changes in Birmingham:
„Jazz und das Jenseits“, Obertitel: „Gabriel aus den Wolken heraus blasen.“

Walter van de Leur, Universität Amsterdam.

RC Leur
Der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Louis Armstrong. Darin malt er sich den Moment aus, wo er an die Himmelstür klopft, und lieber von Gabriel - statt Petrus - empfangen werden möchte.
Gabriel ist der Trompeter im Himmel.
Und Armstrong zeigt sich gewappnet für ein zünftiges „tradin fours mit Gabriel.
Armstrong hat das ein paar mal zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel als er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ich glaube, das war in Italien. Er musste während einer Tour ins Krankenhaus. Und als er wieder genesen war, sagte er gegenüber einem Zeitungsreporter:
„Ich hatte den Eindruck, mein Kumpel Bix habe mich gerufen, aber ich war noch nicht bereit, mit ihm zu spielen.“
Er meinte damit Bix Beiderbecke, ebenfalls ein Trompeter.

 

MILES DAVIS Gone 2015, 5:23

„Jazz und das Jenseits“ - im Falle von Miles Davis gehört dazu unbedingt auch das Diesseits in Form des aktuellen Films „Miles Ahead“, daraus auch der Schluss-Track: ein Rap-Shuffle, geschrieben von Robert Glasper.

WALTER VAN DE LEUR
„Jazz und der Tod“ - natürlich werde ich häufig gefragt:
„Was gibt es denn da an Verbindungen?“
Da gibt es sogar eine sehr starke Verbindung. Sie beginnt in New Orleans, mit dem fantastischen Ritual des Jazz Begräbnisses.
Das ist ein sehr interessantes Phänomen: die Verstorbenen werden auf dem Weg zum Krematorium von einer Jazzband begleitet.
Meine Arbeit fragt auch danach, als was denn der Tod von Jazzmusikern verstanden wird. Ich habe mir also die Beispiele Charlie Parker, John Coltrane, Chet Baker, Ben Webster und Miles Davis angeschaut.
Fans, Kritiker, Journalisten, Jazzhistoriker haben dazu Narrative entwickelt, um - und das ist meine Vermutung -, um diesen Ereignissen Bedeutung zu verleihen.
Das führt zu allerlei Erzählungen und Geschichten, die zu der Erkenntnis führen, wie wir Jazz und Jazzmusiker verstehen sollten.
Irgendetwas scheint Jazzmusikern zu eigen zu sein, das sie von anderen Musikern unterscheidet. Und dieses Irgendetwas ist natürlich der mysteriöse Bereich der Improvisation, die sie als über-lebensgroß erscheinen lässt. Sogar unter Musikern.
Ich habe klassische Musiker darauf angesprochen, und selbst die sind vollkommen angetan von dieser Fähigkeit der Jazzmusiker, Musik allein aus einem Lufthauch entstehen zu lassen.
Und irgendwie findet das seinen Niederschlag in der Art und Weise, wie wir über diese Menschen denken, wenn sie versterben.
Manchmal werden sie für über-menschlich gehalten, als hätten sie in ihrem Leben höheren Kräften Ausdruck gegeben, z.B. John Coltrane und Charlie Parker. Es ranken sich geradezu biblische Geschichten um sie.
Louis Armstrong hat Bezug darauf genommen.
In dem Dokumentarfilm von Ken Burns treten tatsächlich Leute vor die Kamera, die sagen: „Ich kann einfach nicht glauben, dass Louis Armstrong lediglich ein Mensch gewesen sein soll - er war ein Geist!
Er wurde auf Erden geschickt, um uns glücklich zu machen. So, wie Gott auch andere für diese Aufgabe auserwählt hat!“

GEORGE LEWIS EUREKA BRASS BAND Just a closer Walk with Thee, 3:37

WALTER VAN DE LEUR
Tatsächlich bekommen heute auch Jazzmusiker ein New Orleans-Begräbnis, die gar nicht aus New Orleans kommen.
Es wird mehr und mehr zu einem Ritual, um - wie man sagt - „sie nach Hause zu blasen“.
Das heisst: man schreitet mit der Band, man bringt den Sarg zum Krematorium. Und wenn das aus Kostengründen nicht möglich ist, trägt man ihn wenigstens in die Kirche hinein und wieder hinaus, während die Jazzband spielt.
Das findet man nun an verschiedenen Orten. In letzter Zeit wurden zum Beispiel in New York auf diese Art Jazzmusiker und Jazz-Szenepersonal zu Grabe getragen - etwa Phiby Jacobs, eine Konzertveranstalterin.
Clark Terry bekam ein Jazz-Begräbnis...
Ornette Coleman aber nicht..                 
...Louis Armstrong auch nicht (ausrufend) Seine Frau war dagegen.
Das Ganze ist nicht umumstritten. Selbst in New Orleans.
Es handelt sich um eine religiöse Handlung. Und manche halten Jazz nicht für eine angemessene Musik im kirchlichen Rahmen.

CHET BAKER Blues, 7:59

MODERATION
Ja, das ist gemein: ein Blues mit Chet Baker, wo man ihn gar nicht erkennt und meint, es sei Miles Davis
Den Tenorsaxophonisten kann man auch kaum identifizieren, aber es ist tatsächlich Michael Brecker, und der Schlagzeuger - Tony Williams.
Drei berühmte Jazz-Verstorbene in einer nicht so berühmten Aufnahme von Chet Baker aus dem Jahre 1977, auch zu finden in der playlist dieser Sendung auf wdr3. de
Und wir hören weiter zu: Walter van de Leur mit einem Ausblick auf sein kommendes Buch:

WALTER VAN DE LEUR
Ich vergleiche in meiner Arbeit den Tod von Ben Webster und Chet Baker, die beide in Amsterdam verstorben sind. Webster ist schwarz, Baker weiß.
Das hat eine Rolle gespielt in ihrer Karriere: Chet Baker hielt man immer für „nicht-authentisch“, in einem gewissen Ausmaß hielt man ihn auch für einen Schwindler.
Das lässt sich auch nach ihrem Tod sehr gut verfolgen.
Ben Webster erscheint demnach als der weise, alte Mann, der der Welt eine wichtige Botschaft hinterlässt, wohingegen Chet Baker einfach aus einem Fenster gefallen ist.
John Scofield als wiederum weißer Musiker wird wahrscheinlich nicht solche Fantasien unter seinen Fans aktivieren.
Ich meine, das hat auch damit zu tun, wie sie über Authentizität denken - ein Thema, das riesengroß diese Arbeit überschattet.
Es gilt derjenige als authentisch, der mit höheren Kräften in Verbindung steht. Auf John Coltrane trifft das zu, es gibt eine ganze Coltrane-Kirchengemeinde in Kalifornien.
Man kann natürlich niemals vorhersagen, welches Ansehen Leute wie Scofield in Zukunft haben werden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es schon einen Unterschied macht, ob sie weißer oder schwarzer Hautfarbe sind.
Eben weil der größere Teil des Publikums weiß ist und dunkle Hautfarbe für einen bedeutenden Teil des Authentischen im Jazz hält.

MODERATION
Das ist eine Sendung des BBC WORLD SERVICE am 23. April 2016, dem 400. Todestag von Shakespeare.
Der Moderator kündigt an, was sich in wenigen Stunden in Stratford-upon-Avon vollziehen wird: man glaubt es kaum - ein Jazz-Begräbnis für William Shakespeare.

WALTER VAN DE LEUR
Sie werden überrascht sein, dass Bewohner von New Orleans selbst dann noch ein Jazz-Begräbnis erhalten, wenn sie lange tot sind.
Das New Orleans Jazz & Heritage Festival veranstaltet jedes Mal Zeremonien für Musiker, die im abgelaufenen Jahr verstorben sind.
Die Leiche ist nicht mehr vorhanden, weil längst schon unter der Erde. Es ist ein Ritual, um den Verstorbenen Ehre zu erweisen.
shakespeareAber, das Beispiel „Shakespeare“ - das ist schon..., ja das ist schon interessant, um es mal so zu formulieren.
Es unterstreicht andererseits, was ich mit meiner Arbeit zum Ausdruck bringen will: die Leute brauchen diese Art Ritual, um Bedeutung zu generieren, um sich um einen Verstorbenen herum zu versammeln.
Inzwischen ist das ein regelrechter Export-Artikel.Es gibt dazu neuerdings auch eine Begleiterscheinung, einen neuen Brauch - und das ist die New Orleans Hochzeit.
Es kommen sogar Leute von außerhalb, um in New Orleans Hochzeit zu feiern - die wie ein Begräbnis ausschaut, mit einer Jazzband, mit einer Parade.
Wenn mir so etwas unterkommt, tanze ich vor lauter Freude, weil sich für mich schon wieder ein weiteres Kapitel auftut - es ist ein richtiges Geschäft geworden.
Das muss man wissen, in New Orleans sieht sich die Gemeinschaft verpflichtet, den Verstorbenen ein anständiges Begräbnis zu bereiten, mit richtiger Musik und seiner second-line-Parade.
Das ist tief in der community verwurzelt und Teil ihrer Identität.

MODERATION
Shakespeare, Michelangelo, Louis Armstrong - die drei größten Künstler überhaupt. Der das sagt, ist der jenige, der anschließend „When the Saints...“ live in einer BBC-Sendung spielt:
Der Trompeter Prof. Wendel Brunious aus der Abordnung aus New Orleans, die Shakespeare am 23. April 2016 ein Jazz-Funeral bereitet, in dessen Heimatstadt Stratford-upon-Avon.

RAYMOND MACDONALD & MARILYN CRISPELL Flame, 1:54

MODERATION
Das ist unser letzter Gesprächspartner von der rhythm changes-Konferenz in Birmingham. Er ist mit der prominenteste.
Er spielt auch Saxophon. Aber seinen großen Ruf hat er erworben als einer der führenden Forscher im Bereich „Improvisation“:
Raymond MacDonald von der Universität Edinburg, ein Psychologe, im Gegensatz zu vielen anderen ein empirisch vorgehender Wissenschaftler.
Das ist keiner, der Meinungen vorträgt, sondern Fakten, Forschungsergebnisse. Und schon mit dem Titel seines Vortrages rückte er ab von „Jazz Utopia“.
Seine keynote, also sein Hauptvortrag, hieß:
„Utopia, Nirvana oder Valhalla - Improvisation und Jazz“.

RAYMOND MACDONALD
raymond macdonald

 

 

Einer der Gründe, warum ich lieber von „Nirvana“ als von „Utopia“ spreche, ist:
Nirvana ist sofort erreichbar. Es ist auch ein Bewußtseinszustand, ein soziales Konstrukt.
Ja, per Improvisation können in dieser Hinsicht existentielle Erfahrungen gemacht werden.
Nirvana ist ganz einfach ein anderes Wort für den „Flow“?
Ja. ganz genau.

 

 

 

CHICK COREA It could happen to you, 4:32

MODERATION
Chick Corea, „It could happen to you“.
Raymond MacDonald zitiert in Birmingham eine Studie, und zwar von dem amerikanisch-britischen Forscherpaar Schober & Spiro.
In dieser Studie spielen zwei professionelle Jazzmusiker genau diesen Standard. Sie spielen ihn drei Mal, haben aber keinen Sichtkontakt, ja sie wissen nicht mal, wer der andere ist.
Sie wissen nur: es soll „It could happen to you“ gespielt werden.
Im Anschluss werden sie - immer noch anonym - befragt, zwei Monate später noch einmal. Und die Ergebnisse stellen geradezu auf den Kopf, was wir immer über die tolle Verständigung unter Musikern so hören und lesen.
Im Großen und Ganzen stimmten sie hinsichtlich der Qualität ihrer Performance überein, aber in vielen Einzelheiten nicht.
Die Forscher schließen daraus, dass volle Übereinstimmung gar nicht notwendig ist für eine erfolgreiche Improvisation.

macdon schober


RAYMOND MACDONALD

Diese Studie ist wirklich wichtig.
Wenn zwei Jazzmusiker zusammenspielen, und wenn es wirklich gut läuft zwischen ihnen, dann sind sie durch ein nicht-bewusstes Verstehen miteinander verbunden. Es besteht Einverständnis über ihre jeweiligen Entscheidungen und wie sich die Improvisation entwickelt.
Diese Studie zeigt aber nun, dass die Musiker sehr oft unterschiedliche Eindrücke haben von dem, was musikalisch gerade abläuft und welche Entscheidungen der jeweils andere gerade trifft.
Trotzdem erzielen sie im Großen und Ganzen Übereinstimmung über den Erfolg des gerade ablaufenden Prozesses. Das zeigt mir, dass Musiker ihr Musizieren gar nicht auf dieselbe Art von Moment zu Moment verstehen müssen.
Wir haben ganz ähnliches herausgefunden, wir haben Trios aufgenommen und die Musiker danach in Interviews über den Ablauf der Performance interviewt. Die Musiker hatten durchaus verschiedene Eindrücke über das, was im jeweiligen Moment abgelaufen war.
Aber ihr Vertrauen zueinander; das Gefühl, dass etwas Wichtiges geschieht; ihre Bereitschaft, sich dem Moment zu stellen, auch in einem sozialen Sinne - das war ihnen von großer Bedeutung.
Dass sie sich als Individuen einbringen müssen. Das war wichtig. Und eben nicht Übereinstimmung in der Frage, was im jeweiligen Moment geschieht.
Wenn der andere an einer Stelle schneller spielt, muss das nicht heissen, dass ich es auch tue. Die Musiker müssen darüber gar nicht nachdenken.
Musiker können eine bestimmte Situation unterschiedlich beurteilen und gleichwohl ein erfolgreiches Ganzes produzieren.

RICHARD POOLE Lucid Air, 3:14

MODERATION
Die Partnerin von Raymond MacDonald von vorhin, die Pianistin Marilyn Crispell in einer neueren Aufnahme mit dem Trio des Schlagzeugers Richard Poole.
Ein weitere aufschlußreiche Erkenntnis aus der psychologischen Impovisationsforschung, wie sie Raymond MacDonald in Birmingham vorstellte, bezieht sich auf die Art und Weise, wie Jazzmusiker über Improvisation sprechen.
Und die Muster, wie sie MacDonald herausgefiltert hat, kommen uns aus Interviews durchaus bekannt vor:

RAYMOND MACDONALD
Aus unseren Interviews mit Jazzmusikern haben wir zwei verschiedene Arten herausgefiltert, wie sie über Improvisation sprechen.
Die eine nennen wir das Meister-Modell (mastery repertoire); dabei betonen die Musiker die handwerklichen Voraussetzungen; dass man nicht einfach ein Instrument in die Hand nehmen und improvisieren kann.
Man muss lernen, üben, man muss einen gewissen Hintergrund haben.
Je mehr man über Hintergrund und Kenntnisse verfügt, desto besser kann man improvisieren.
Das nennen wir das „Meister-Modell“.
Das Gegenteil ist das Modell des „Mysteriösen (mystery repertoire)
Dabei stellen die Musiker die schwer beschreibbaren Qualitäten der Musik heraus, ihre unaussprechlichen, ihre emotionalen Qualitäten.
Musik als Sprache der Seele. Die Augen schließen und sich von der Musik forttragen lassen. Man weiß nicht genau, was eigentlich geschieht.
Genau - der flow! Das Dahinfließen.
Die beiden Modelle sind sehr unterschiedlich.
Das eine stellt die Beherrschung des Instrumentes heraus, das meisterhafte Handwerk.
Wohingegen das andere das Esoterische, das Mysteriöse der Improvisation betont.

IKUE MORI/EVAN PARKER Nothing´s planted

RAYMOND MACDONALD
Oft verwenden Musiker beide Modelle.
Ganz wichtig: daraus geht nicht hervor, wie Improvisation wirklich abläuft, daran können wir lediglich sehen, wie Musiker über Improvisation sprechen.
Es gibt Musiker, die mit Leichtigkeit von einem Sprach-Modell zum anderen wechseln.
Evan Parker
Wenn man sich z.B. Interviews mit Evan Parker anschaut, so findet man in ihm einen Musiker, der ganz geschickt zwischen beiden Arten gleitet.
Seine virtuose Saxophon-Technik, an der er über ein langes Leben gefeilt hat, steht völlig außer Frage.
Er spricht auch gern über seine Fertigkeiten und wie wichtig sie ihm sind.
Aber fast im gleichen Moment sagt er auch Sätze wie:
„Ich muss schauen, was das Saxophon mir gibt, wenn ich es spiele.“
Er spricht häufig von Momenten, wo ihm das Saxophon Dinge vorgebe, die er gar nicht erwartet habe.
Und dass er darauf eine Antwort finden müsse.
Das ist klar das Sprachmodell des „Mysteriösen“.
Er sagt dann z.B.: „Da ist etwas, was ich nicht unter Kontrolle habe. Ich weiß gar nicht, was da los ist.“
Das ist das Beispiel eines Musikers, der beide Arten verwendet, über Improvisation zu sprechen.

SENSAROUND Colbourne

MODERATION
WDR 3 JAZZ AND WORLD heute mit einer Reportage von der 4. rhythm changes Konferenz in Birmingham, unter dem Titel „Jazz Utopia“.
Die Sendung schließt mit einer Live-Aufnahme aus Australien,  einer Art „Ambient Jazz“, mit unserem letzten Gesprächspartner wiederum als Saxophonisten: dem Psychologie-Professor Raymond MacDonald aus Edinburgh.
Die Redaktion der Sendung hatte Bernd Hoffman, am Mikrofon verabschiedet sich Michael Rüsenberg.


© Michael Rüsenberg, 2016
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