Polka in China?

Verlust und Chance in der globalisierten Welt*
Funkkolleg Musik, HR2, 19.05.2012

SPRECHER
Am 27. Dezember 2011 starb die Sängerin Cesaria Evora im Alter von 70 Jahren. Sie starb dort, wo sie auch geboren wurde: auf Sao Vicente, das ist eine der Kapverdischen Inseln.
Der Tod von Cesaria Evora fand auch im deutschen Feuilleton Beachtung. Gefeiert wurde in den Nachrufen aber keineswegs die Vertreterin der „kapverdischen Folklore“, wie man sie vielleicht noch vor 20, 30 Jahren bezeichnet hätte - gefeiert wurde, z.B. in der Rheinischen Post und in der Süddeutschen Zeitung:

ZITATOR
„ein Superstar der Weltmusik“.

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Das ist erstaunlich. Denn die Musik von Cesaria Evora zeichnete sich stilistisch gewiß nicht durch den Anspruch aus, die ganze Welt zu umarmen. Die Sängerin war eine Repräsentantin des Morna, einer geografisch recht präzise lokalisierbaren, regionalen Musikkultur.

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Aber, ist diese Bezeichnung wirklich so erstaunlich? Hat sich nicht längst „Weltmusik“ durchgesetzt als begriffliches Dach für alle Musiken, die außerhalb Europas siedeln? Werden nicht selbst Teile der europäischen Musik, beispielsweise der portugiesische Fado, mitunter schon dazu gezählt?

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Weltmusik oder Worldmusic - in diesem Falle lässt sich ausnahmsweise einmal die Geburtsstunde eines Begriffes benennen, nämlich: Montag, 29. Juni 1987, das Pub „Empress of Russia“ in London. Dort trafen sich 20 Vertreter unabhängiger Schallplattenlabels, unter ihnen der renommierte Joe Boyd, um ein Wort auszubrüten, mit dem sich ihre sehr unterschiedlichen Veröffentlichungen dem Handel besser schmackhaft machen konnten.

ZITATOR
„Sie müssen sich also nicht mehr den Kopf zerbrechen, wo Sie die neuen Alben mit jemenitischem Pop, bulgarischen Chören, Soukous aus dem Zaire oder Kora-Aufnahmen aus Gambia hinstellen sollen.“

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cwm_banner_neuWorldmusic - Weltmusik,
das war 1987 ein Begriff für´s Marketing und keineswegs eine musikalische Definition.
Der Begriff hat inzwischen weite Kreise gezogen, er hat auch die akademischen Institutionen erfasst.
So gibt es z.B. in Hildesheim ein Center for Worldmusic; das ist eine der Universität Hildesheim angegliederte Institution, untergebracht in einer früheren evangelischen Kirche.
Leiter des Hildesheimer Center for Worldmusic ist der Musikethnologe Professor Raimund Vogels.


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 RAIMUND VOGELS
Ich glaube, dass das eigentlich eher eine Frage von Definitionen des Einzelnen ist. Wir werden hier fünf Leute am Tisch versammeln können und würden fünf verschiedene Defintionen bekommen. Wir haben viele Worldmusic-Begriffe, ich glaube, das ist das Problem. Natürlich gibt es einen Worldmusic-Begriff als musikalische Gattung, die sich wiederspiegelt in der CD-Abteilung eines Kaufhauses, wo man dann von Youssun Dour bis Angelique Kidoo die großen Namen einer Szene wiederfindet, die ja auch wirklich weltweit rezipiert wird, vor allem eben die Rezeption des Nordens oder des Westens von Musikstilistiken, wo Popularmusikstile und traditionelle Musikstile in irgendeiner Form eine Mischung eingehen.
Aber wir haben längst auch einen Worldmusic-Begriff, der im Prinzip den Gegenstandsbereich von musik-ethnologischer Forschung einschliesst, wo wir längst nicht sagen: wir fassen jetzt nur das enge Segment von Popularmusik an, sondern uns interessiert eigentlich musikalisches Verhalten weltweit. Auch da stülpen wir dann unter Umständen den Begriff Worldmusic drüber, um einfach einen Begriff zu haben, um das, was wir tun, zu beschreiben.

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SPRECHER
Weltmusik ist also ein sehr offener, ein unverbindlicher Begriff - nichts, was eine Musik meint, in der die ganze Welt stilistisch aufgehoben wäre.

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RAIMUND VOGELS
Es ist sicher keine musica mundana. Nein, der Begrif ist da, wo er verwendet wird, einer, wo man nachfragen muss: was meinst du eigentlich mit diesem Begriff? Und dann bekommt man entsprechende Konzepte geliefert, die ganz unterschiedlich sein können.
(Michael Rüsenberg) D.h. auch die koreanische Musik könnte bei uns unter worldmusic gehandelt werden?
Na, da wird´s ja spannend. Also dass  koreanische Musik und koreanische Popularmusik unter Umständen sich in so einem Genre worldmusic wiederfindet - ja, daran haben wir uns ja gewöhnt.

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II.

SPRECHER 
Worldmusic - Weltmusik. Es liegt nahe, die Musikformen, die insbesondere dem kommerziellen Verständnis dieses Begriffes entsprechen, mit dem in Verbindung zu bringen, was wir heute unter „Globalisierung“ verstehen; darunter auch, aber nicht ausschließlich das Internet.

SPRECHER
Globalisierung ist für Musikhistoriker und Musikethnologen freilich viel, viel älter. Raimund Vogels:

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RAIMUND VOGELS
vogelsGlobalisierung ist ein Prozess, den es gibt, seit es die Welt gibt, die ganze Besiedlung der Welt basiert darauf. Und insofern ist das als Phänomen ja überhaupt gar nicht neu.
Spätestens seit dem Zeitlalter der Entdeckungen hat das sicher globale Ausmaße angenommen, wo innerhalb relativ kurzer Zeit relativ große Entfernungen zurück gelegt werden. Und wo die Komprimierung, wenn man so will, des Raumes dafür sorgt, dass nicht nur Menschen und Güter, sondern zunehmend auch Ideen sich über diesen Globus verbeiten. Wir könnten jetzt noch einmal auf das Zeitalter des Sklavenhandels verweisen, wo ja tatsächlich der Bereich zwischen Afrika und Amerika zum wirklichen   Highway wurde. Den wir viel mehr in den Blick nehmen müssen, wo sowohl von Afrika nach Amerika und wieder zurück eigentlich ein beständiger Austausch war.
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SPRECHER
Maximilian Hendler, Musikethnologe aus Graz, betont dabei insbesondere die Seefahrt.

ZITAT HENDLER
Die Seefahrt birgt ein ganzes Bündel von Möglichkeiten, Musik zu vermitteln. Zunächst sind jene Gesänge zu nennen, welche die Seeleute bei ihrere Arbeit an der Takelage der Segelschiffe sangen. Ihre prägnanteste Ausformung fanden sie in den englischen Sea Shanties. Dann brachten Seeleute Musikinstrumente in ferne Länder. Die Substitutionslauten entlang des portugiesischen Seeweges nach Ostasien legen noch heute indirekt Zeugnis davon ab. Gitarre, Violine und Ziehharmonika folgten in späteren Zeiten nach.

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1577 schreibt ein europäischer Missionar aus Kyoto in Japan:

ZITATOR
Ach, hätten wir doch mehr Orgeln und andere Instrumente - Japan könnte binnen eines Jahres christlich sein! 

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MAXIMILIAN HENDLER
Ja, das muss ein englischer Missionar gewesen sein. Ansonsten waren vor allem Jesuiten in Ostasien sehr tätig. Gerade jesuitische Komponisten haben eine ganz eigenartige Mischung zwischen ostasiatischer und europäischer Musik hervorgebracht.

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SPRECHERIN
Vielleicht finden sich hier sozusagen die „frühesten Wurzeln“ eines Interesses, ja einer Begeisterung an abendländischer Musik, wie sich heute beispielsweise bei den Tourneen der Berliner Philharmoniker durch Japan zeigt. Nicht nur dort, in mehreren Staaten Südost-Asiens spielt das Orchester vor größeren Auditorien als daheim und erzielt Höchstgagen.

SPRECHER
Vermutlich wird das Interesse an westlicher Kunstmusik dabei auch gespeist von ihrem Imagefaktor, nämlich als Ausdruck westlicher Lebensart.

SPRECHERIN
Das war schon im 19. Jahrhundert so; ab 1880 waren Partituren westlicher Musik an japanischen Schulen verbreitet, und – für unser Thema besonders aufschlussreich – die Musiker, die in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts die westliche Musik erlernten, waren dieselben, die an der Entwicklung der höfischen Musik, genannt Gagaku, beteiligt waren. In ihren Konzerten spielten sie beides.

SPRECHER
Maximilian Hendler hat sich ausführlich mit der Rolle der Portugiesen im Zeitalter der Entdeckungen befasst. So war es ein portugiesischer Seefahrer, der 1435 als erster Kap Bojador umsegeln konnte. Es liegt etwas nördlich des 26. Breitengrades im heutigen Staat Marokko/Westsahara und galt im späten Mittelalter als Grenze, die nach Süden nicht überwunden werden konnte. Für Maximilian Hendler eine Leistung auch mit musikalischen Folgen.

ZITAT HENDLER
Weder die Portugiesen, die 1491 den König von Kongo tauften, noch die Niederländer am Kap der Guten Hoffnung oder die Pilgrim Fathers in Neuengland hatten Mozart oder Beethoven im Gepäck. Sie und alle anderen, die das Meer zu Handel und Landnahme befuhren, trugen die Musik nicht nur ihrer Zeit mit sich, sondern auch der davorliegenden Jahrhunderte.  Es handelt sich um Stile und Spielweisen, von denen in Europa nur mehr Rudimente in abgelegenen Gebieten zu finden sind. Formen der Kunstmusik spielen dabei die geringste Rolle. Vielmehr tut sich ein Blick in die europäische Popularmusik der vergangenen 500 Jahre auf, und vieles, was "westlichen" Hörern heute exotisch erscheint, entstammt ihrer eigenen Tradition, die sie nicht mehr kennen.

SPRECHER
Die Taufe des Königs von Kongo im Jahre 1491, sie ist für den Musikethnologen Hendler ein Schlüsselereignis der musikalischen Globalisierung:

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MAXIMILIAN HENDLER
max-hendlerEs war der erste und gleichzeitig der prominenteste Heide, den die Portugiesen taufen konnten. Das war in einer Zeit, als das Zweite Vaticanum noch nicht gegriffen hat und solche Feste wirklich pompös gefeiert wurden. Solche Zeremonien haben stundenlang gedauert, waren ununterbrochen von Musik untermalt. Und die Musik hatte überhaupt den Hauptteil der Zeremonien ausgemacht.

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SPRECHER
Die Rezeption europäischer Musik durch Schwarzafrikaner beginnt im 15. Jahrhundert, vermittelt durch die Seefahrt.

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MAXIMILIAN HENDLER
Es finden sich heute im Kongo Instrumente, die nicht westlicher Bauart sind, z.B. der Bluriark oder die Bogenlaute, die rein afrikanisch sind, gleichzeitig aber temperiert gestimmt. Das sind Anzeichen, dass der Einfluss der europäischen Musik schon sehr tief greift.

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III.

SPRECHER
Was hatte Maximilian Hendler vorhin gesagt? „Vieles, was westlichen Hörern heute exotisch erscheint, entstammt ihrer eigenen Tradition, die sie nicht mehr kennen“.
Raimund Vogels hat dafür ein prägnantes Bild gefunden:

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RAIMUND VOGELS
Wir können sicher davon ausgehen, dass der Austausch von Musiken einer ist, der permanent über die letzten 500 Jahre einen Prozeß des Gebens und Nehmens war. Es ist nicht so, dass jetzt mit den Sklaven oder mit den Seefahrern etwas in der Neuen Welt abgeliefert worden ist, und da ist es denn geblieben, und irgenwann ist es wieder mal zurückgekommen. Sondern wir müssen uns das als mehrfache Spule und mehrfaches Sich-Aufeinanderbeziehen verstehen und nicht als einmaligen Vorgang.
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SPRECHER
Dabei mischen sich Musiken viel leichter als Sprachen. Sprachen werden eher verdängt oder ersetzt, Musiken eignen sich für das, was die Musikethnologen demzufolge „Synkretismus“ nennen. Der kanadische Musikpsychologe Steven Brown nennt als Beispiel die zentral-afrikanischen Pygmäen: von ihrer Sprache habe sich nichts erhalten, ihre Musik aber blühe bis zum heutigen Tage.

SPRECHER
Dieser Synkretismus erschöpft sich freilich nicht in der Übernahme oder Infiltrierung durch die Musik der Kolonialherren - es war und ist ein Prozeß unter allen Musikkulturen. Der englische Musikwissenschaftler Nicholas Cook nennt ein Beispiel aus der Gegenwart:

ZITATOR
Brasilianische Popmusik besteht aus einer unentwirrbaren Kombination aus einheimischen, portugiesischen, afrikanischen und nord-amerikanischen Musiken und hat selbst in großem Maße Nord-Amerika und Europa beeinflusst.

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RAIMUND VOGELS
Die technische Entwicklung hat sicher in unserem heutigen Begriff von Globalisierung eine wichtige Rolle gespielt, weil im Bereich der Musik mit der Loslösung der musikalischen Produktion vom Produzenten - also mit der Loslösung dessen, was der Musiker/die Musikerin einspielt - und der Möglichkeit, das innerhalb von ein paar Stunden am anderen Ende der Welt zu hören, ohne dass man überhaupt weiss, wer dieser Musiker ist, das hat sicher für die musikalische Welt einen ganz zentralen und grundlegenden Wandel bedeutet. Denn sicher noch bis Beginn des 20. Jahrhunderts war die Musik schier untrennbar mit dem Musiker verbunden, sehen wir mal von den Spieluhren und Musikautomaten ab, die es im 18. Jahrhundet schon gab.
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IV.

SPRECHERIN
Polka in China. Im Internet kann jeder überprüfen, dass dies weder Fantasie noch Utopie ist: in einem Video auf YouTube kann man etliche Paare dabei beobachten, wie sie in einem öffentlichen Park Polka tanzen, zu chinesischer Schlagermusik.
Es gibt solche Phänomene zuhauf: Finnland gilt schon seit langem als das Tangoland Nr 2 nach Argentinien. Und ein Klassik-Kritiker weist darauf hin:

ZITATOR
Das „deutsche Geigenwunder“ (...) ist Ausdruck von Wanderschaft und globaler Vernetzung.

SPRECHER
„Polka in China? Verlust und Chance in der globalisierten Welt“ - die beiden Musikethnologen in dieser Sendung kommen zu einer ähnlichen Bewertung.

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MAXIMILIAN HENDLER
Wenn nur die amerikanische Hitparade globalisiert wird, dann ist es eindeutig ein Verlust. Wenn auch andere Formen globalisiert werden - da könnte durchaus eine Chance drinnen sein.
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RAIMUND VOGELS
Also aus meiner Perspektive betone ich ganz eindeutig die Chance. Ich betone, dass die heutige Welt viel mehr als früher die Chance gibt, sich musikalisch individuell selbst zu bestimmen und sogar individuelle kreativ tätig zu sein. In der globalisierten Welt hat sich vieles verändert, weil nämlich die Zugangswege zur Musik andere geworden sind.
Ich brauche nicht mehr unbedingt das Portemonnaie meines Vaters, um an der Musikschule Klavier oder Geige zu lernen, sondern ich kann an meinem kleinen Computer zu Hause mir die entsprechenden Musikprogramme runterladen. Und ich kann völlig losgelöst von technischen, handwerklichen Fähigkeiten, von der Beherrschung eines Instrumentes anfangen, musikalisch zu basteln, selber eigene Musikformen für mich zu finden. Und trete damit eigentlich raus aus dieser gesellschaftlichen Begrenztheit, die Musik bis in die jüngste Vergangenheit in unserer Welt hatte.
Ähnliches beobachten wir auch in Afrika. Die traditionelle Musik ist in der Tat häufig bestimten Berufskasten vorbehalten, die Popularmusik löst diese Kastenbindung weitestgehend auf, und viel Kids greifen eben zur Gitarre oder zum Keyboard und fangen an Musik zu machen, die vorher nie im Leben die Möglichkeit gehabt hätten, da Zugang zu finden.Ich betone eigentlich ehr die Chancen, die die Globalisierung mit sich bringt, weil sie neue Wege, neue Ausdrucksformen schafft.                                      
Dass Musik sich wandelt, dass Musik vom Verlust begleitet ist, ist bei einem Medium, das so flüchtig ist wie die Musik, eigentlich selbstverständlich. Die Tatsache, dass wir es auf Tonband bannen oder auf digitalisierten files bannen können, hat ja dem Grundcharakter der Musik eigentlich nichts weggenommen. Musik ist ein flüchtiges Geschäft und lebt vom Wandel, lebt von der Erneuerung, von dem permanenten Etwas-Neu-Einbeziehen, sodass ich schon sehe, dass die Globalisierung da eher Chancen eröffnet.
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V.

SPRECHER
„Polka in China? Verlust und Chance in der globalisierten Welt“ -
Es sieht aus, als müssten wir uns verabschieden von lieb gewonnenen Begriffen und damit auch von einer musikalischen Ordnung, wie sie unseren Alltag vielfach prägt: dass nämlich jede Musikkultur sich von den anderen unterscheidet und sich sauber beschreiben lässt. Die Musikethnologie hat davon längst Abschied genommen, in ihrem Denken bleibt quasi kein Stein mehr auf dem anderen.
Nehmen wir z.B. die Frage: was ist echt, was ist genuin in der Musik?

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MAXIMILIAN HENDLER
Was ist „genuin“ in der Musik? Man könnte auch sagen: wenn man die europäische Musik unter diesem Aspekt betrachtet, dass es auch keine genuin europäische Musik gibt. Musik hat immer vom Austausch gelebt. Es ist allerdings so, dass die Musik - das ist seit mehr als 500 Jahren so - immer hineingezogen wird in andere Spielweisen, andere Musikästhetiken.
Und dadurch entstehen Mischformen, von denen man teilweise wirklich sagen kann, das kommt von da, das kommt von dort. Andererseits aber auch wieder solche Mischformen, bei denen wirklich nicht mehr zu trennen ist: was kommt von hier, was kommt von dort?
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SPRECHER
Und, das größte Lieblingswort aus dem musikalischen Alltag: Authentizität.

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RAIMUND VOGELS
Wir haben eine ganze Reihe von Begriffen, die eigentlich so einen versteckten Euro-Zentrismus beinhalten. Authentizität ist so ein Begriff, auch der Begriff der Tradition, sicher Begriffe wie Hochkultur oder Primitivkultur, Begriffe wie Blütezeit usw. Das sind alles Begriffe, die aus unserer heutigen Perspektive in irgendeiner Form - vielleicht nicht eindeutig, aber doch wertend - die Musik einer anderen Kultur, einer anderen Zeit einengen.
Authentizität ist so ein Begriff einfach deswegen, weil wir quasi anderen Menschen unterstellen, es gäbe eine Musik, die sozusagen „ihre“ Musik wäre, von der dann aber auch nicht gesagt wird, wo sie historisch herkommt, die quasi sozusagen essentialisiert „die Musik der...“ ist. Und „die Musik ...der“ wird dann durch westliche Musik quasi verändert, abgesunkenes Kulturgut usw. Da werden dann Begriffe draufgepflanzt, die eigentlich sozusagen den Verlust betonen, statt den Menschen die Autonomie zu geben, wenn sie in Kontakt mit Neuem geraten sind, das, was sie immer schon gemacht haben oder was sie zuletzt gemacht haben, eben auf Grund des Einflusses und der Begegnung mit dem Neuen zu verändern. Wir lehnen, oder ich lehne diesen Begriff „Authentizität“ deswegen ab, weil er den kreativen Prozess - und das ist ein zutiefst menschlicher Vorgang - eigentlich negiert und gerne die Menschen so hätte, wie wir sie uns vorstellen. Wohlwissend, dass es diesen Urzustand - das auch der eine Fiktion ist, dass es den nie gegeben hat.
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SPRECHER
Dieser Abschied vom Authentischen - er dürfte vielen schwer fallen. Ja, er dürfte mitunter schmerzlich sein, wenn wir uns dabei bestimmte Alltagsphänomene vor Ohren führen!

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RAIMUND VOGELS
Der Didgeridoo-Spieler in der Fußgängerzone ist selbstverständich genau Ausdruck dieser Globalisierung. Er macht etwas damit, was im Sinne von „sacred songs“ der Australier eigentlich nichts mehr damit zu tun hat. Der macht sein eigenes Ding. Das ist eben dieses Pusterohr. Aber es ist etwas Neues geworden. Da steht auch Didgeridoo drauf, aber es ist eigentlich nicht Didgeridoo drin.
(Michael Rüsenberg) Auch hier ein deutlicher Abschied vom Authentischen!
Das Authentische ist ein Phantom, dem wir nachjagen. Wir können auch nicht sagen: diese musikalische Aufführung im australischen Hinterland mit dem Clan-Ältesten usw., das ist die authentische Didgeridoo-Aufführung. Da würden wir sofort 10 andere ins Feld führen, die sagen: „Halt! Das stimmt ja gar nicht, wir sind die authentische Aufführung!“ D.h. diese Vorstellung von Authentizität ist eine westliche Kategorie, die wir gerne anderen ans Reverse heften, nicht zuletzt um eine eigene, kulturkritische Nuance noch ´reinzubekommen. Aber es ist eben ein Phantom!
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SPRECHER
Einen Widerhall findet diese Auffassung in den polemischen Überlegungen des indischen, in Europa aufgewachsenen Komponisten Sandeep Bhagwati:

ZITATOR
Die Fragen, die Europa an die Musik stellte, lauteten stets: Was ist richtige Musik? Wie soll man sie hören? Welche Maßstäbe kann man für sie finden? Wer hört sie richtig, wer versteht sie? Die Fragen, die sich in einer wirklich globalen Musik stellen würden, sind vielleicht ganz andere: Was ist Zuhören? Welche Arten des Zuhörens gibt es, worauf legen sie Wert, was entgeht ihrer Aufmerksamkeit? Was geschieht, wenn verschiedene Arten des Zuhörens aufeinander prallen? Wer hört welchen musikalischen Wahrheiten zu, in welchem Zusammenhang? Mit solchen Fragen ist es vielleicht schwieriger, zugleich aber auch einfacher, sich einer Musik der Welt zu nähern. Ob sie aber je eine Welt-Musik werden wird, von "Weltsprache" ganz zu schweigen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es wünschenswert wäre.

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RAIMUND VOGELS
Was er hier beschreibt, ist der shift: weg vom Kunstwerk, weg von der Musik - also, was ist gute/wahre/schöne Musik? - hin zum Rezipienten. Wer hört was wie? Am Ende kommen wir dahin, dass wir die unterschiedlichen Rezeptionsweisen, eben im Gegensatz zu Adorno, nicht mehr klassifizieren zwischen dem Super-Experten und dem Hörer, der sozusagen nur zum Frühstücksei noch im Hintergrund was dudeln hat. Sondern wir geben eigentlich jeder Form des Hörens ihre eigene Autonomie zurück.
Ich finde es völlig legitim, wenn man beim Frühstück Musik hört und damit - von mir aus im Sinne des mood managements - sich darauf einstellt, was man den Tag über zu leisten hat. Das ist für mich genauso legitim wie derjenige, der sich in die Partitut versenkt und über Kopfhörer sich ganz in ein Stück hineinbegibt.
Der Kulturrelativismus, den ja nun die Musikethnologen quasi als Grundlage ihres Geschäfts begreifen, das ist nicht nur ein Kulturrelativismus, der sich auf die Musikstücke bezieht. Sondern es ist vor allen Dingen ein Kulturrelativismus, der sich nicht nur auf unterschiedliche Kulturen, sondern eben auch auf unterschiedliche Hörweisen bezieht.
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SPRECHER
Was Professor Vogels hier entwirft, sind nichts weniger als die Umrisse einer neuen ästhetischen Ordnung, beruhend auf einem Relativismus, d.h. der Gleichwertigkeit aller Musiken und aller Arten des Hörens.
Es mag ein jeder entscheiden, ob das für ihn oder für sie die Beschreibung einer wünschenswerten Zukunft ist.

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RAIMUND VOGELS
Die Beschreibung einer wünschenswerten Zukunft, in der vor allem Prozesse zugelassen sind. Wo wir nicht mehr die Zuschreibung einer letztlich doch Werteästhetik haben, sondern wo wir dieses kulturelle Aushandeln von Musik, wo wir quasi jedem einzelnen die Autonomie geben, das für sich so zu tun, wie er das will, im wilden Genre-Mix, wenn es sein muss. Es darf auch sicher in der klaren Festlegung auf ein Genre sein, jeder hat da seine Autonomie.
Wogegen in diesem Abschnitt polemisiert wird - berechtigerweise meiner Meinung nach - ist, dass sozusagen die kulturelle ästhetische Deutungshoheit der einen Seite der anderen Seite gegenüber übernommen wird. Es geht, glaube ich, tatsächlich um Demokratisierung, globale Demokratisierung von einer kulturellen Selbstveranwotlichkeit.
(Michael Rüsenberg) Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine gute und keine schlechte Musik mehr.
Genau.
(Michael Rüsenberg) Es gibt allenfalls gut-gemachte oder schlecht-gemachte Musik?
Ich habe überhaupt kein Problem damit, dass jemand für sich selber sagt: „das halte ich für schlechte Musik oder für schlecht-gemachte Musik. Deswegen höre ich mir das einfach nicht an.“ Das Problem kommt für mich nur ins Spiel, wenn diese Haltung quasi zur Norm wird für z.B. die Vergabe von Kulturgeldern, für die Inhalte von Lehrplänen usw. Wenn also quasi eine Dominanz auf der einen Seite aufgebaut wird, und die anderen vielen Formen von Musikhören, - wahrnehmen diffamiert werden als schlecht. Das Diskursgefälle ist das, was mich stört und nicht die Entscheidung, die jeder einzelne für sich treffen darf: was für ihn oder für sie gut oder schlecht ist.
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SPRECHERIN
Der indo-europäische Komponiste Sandeep Bhagwati fügt diesen Überlegungen noch eine globale Perspektive hinzu:

ZITATOR
Europa hat nicht einmal mehr das Anrecht auf eine exklusive Deutung und Nutzung seiner eigenen Traditionen - es muss, wie alle anderen Kulturen dies schon seit Jahrhunderten von Europa erfuhren, sich dem fremden, dem vereinnahmenden, ja auch dem oberflächlichen, dem ausbeutenden Blick aussetzen. Noch einmal das Beispiel der japanischen Pianistin, die Mozart übt: Muss sie denn von einem Klavierprofessor, der möglichst auch noch Salzburger ist, darin unterrichtet werden, wie man Mozart "richtig" spielt? Wäre es nicht spannender (und letztlich wirkliche Kultur statt bloßer Repräsentationskultur), wenn sie aufgrund ihrer ganz spezifischen multikulturellen Prägungen eine eigene, möglicherweise ganz eigentümliche Interpretation fände. Wenn sie Mozart "schlecht", sich selber aber gut interpretierte?
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Raimund Vogels: Interview am 20.01.2012, Hildesheim
Maximilian Hendler: Interview am 03.02.2012, Leitung Köln-Graz

Literatur
Sandeep Bhagwati
: Musik - Eine Weltsprache? Eine Polemik. In: Neue Zeitschrift für Musik, 04/2000
Steven Brown, Joseph Jordania: Universals in World´s Musics. In: Psychology of Music, 15. December 2011.
Nicholas Cook
: Western Music as World Music. In: Philip Bohlman (Hg): The Cambridge History of World Music (in Vorbereitung)
Maximilian Hendler: Vorgeschichte des Jazz. Vom Aufbruch der Portugiesen zu Jelly Roll Morton. Graz, 2008
Kai Luehrs-Kaiser: Eine-Welt-Musik. In: Fono Forum, 04/2011

*Dieses Sendemanuskript ist in überarbeiteter Form erschienen in
Volker Bernius (Hg): Sinfonie des Lebens. Funkkolleg Musik. Die gesendeten Beiträge. 287 S, 15.99 €, Schott-Verlag, 2012
podcast
© Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten