Improvisation + Improvisieren (I)

Eindrücke von einer Musikkonferenz in Oxford
WDR 3, 19.12.2012


KEITH JARRETT Köln, January 24, 1975 Part IIc


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Guten Abend, meine Name ist Michael Rüsenberg.
Seien Sie herzlich willkommen bei WDR 3 Jazz: zum ersten Teil eines Berichtes über eine Musik-Konferenz in Oxford - Improvisation und Improvisieren.

MODERATON
oxford-music faculty2Improvisation - nicht nur in der Jazzwelt, sondern auch außerhalb davon, hält man dies für eine zentrale Eigenschaft des Jazz.
Das ist richtig, insofern man Improvisation nicht für ein Alleinstellungsmerkmal des Jazz hält. Improvisiert wird auch in vielen anderen Musikgattungen.
Mehr noch: Improvisation ist ein Grundprinzip des Lebens; improvisiert wird - wie jüngst ein Fachbuch zeigt - schon auf der molekularen Ebene.*
„Perspectives on musical improvisation“ hieß es im September an der Universität Oxford; in Oxford beschränkte man sich also auf Musik.
Und das war erschöpfend genug: 33 Vorträge an 4 Tagen, von der Hindustani Musik bis John Coltrane, von Olivier Messaien bis zur jam band music, von der Musiktherapie bis Keith Jarrett.
Nicht zuletzt: Improvisation durch einen blinden Autisten, der auch live Piano spielte; von einem einmal gehörten Stück behält er frappierend viel und den Rest füllt er mit Fantasie: er improvisiert.
Aus dieser Vielzahl habe ich heute einige wenige Forschungsprojekte heraus gegriffen, die einen Bezug zu Jazz bzw. Improvisierter Musik haben.

MODERATION
Die Musik, die seit gut drei Minuten erklingt, sie stammt - wie viele erkannt haben werden - von Keith Jarrett.
Es ist aber nicht irgendein Stück von Keith Jarrett, sondern eines aus seinem größten Erfolg: aus dem „Köln Concert“ von 1975, das als Meilenstein der Improvisation gilt.
Was wir hören, ist „Teil IIc“, die Zugabe des „Köln Concert“.
Eingeweihten ist schon seit einiger Zeit bekannt, dass gerade dieser Abschnitt keineswegs improvisiert ist.

PETER ELSDON
Ich muss gestehen, dass nicht ich das herausgefunden habe, die Sache ist schon eine Zeitlang bekannt. Die Geschichte ist ziemlich kompliziert.
Der Track auf dem Album heisst „Teil II-c“. In der ersten Ausgabe des Real Book, das in Boston erscheint, heisst dieses Stück „Memories of Tomorrow“. Dieser Titel taucht im „Köln Concert“ aber nicht auf.
Aus Bootleg-Aufnahmen ist bekannt, dass Jarrett dieses Stück seit 1970 oder schon früher auf Konzerten spielt.
Wir können aus der Aufnahme also mit Sicherheit schliessen, dass das, was er in „Teil II c“ spielt, nicht vollständig improvisiert ist. Es ist, als spielte er einen Song, vielleicht einen Standard.
Von etlichen anderen Konzerten aus den 70er Jahren, auch von der Tournee 1975, die als Bootlegs vorliegen, wissen wird: immer wenn Keith Jarret eine Zugabe spielt, handelt es sich um ein fertiges Stück - meist von ihm selbst. Manchmal spielt er auch „In your quiet Place“ aus dem Gary-Burton-Album.
Mich interessieren zwei Dinge an „Teil II c“. Zum einen, wie Hörer es aufgenommen hätten. Die, die das Album in den 70er gekauft haben, haben wahrscheinlich nicht geahnt, dass es sich um ein fertiges Stück handelt.
Und das zweite: wie ist es in das Real Book gelangt, unter einem anderen Titel? Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

MODERATION
Peter Elsdon von der Universität Hull.
Anfang des kommenden Jahres bringt er ein Buch über das „Köln Concert“ heraus.
In Oxford beschäftigt er sich weniger mit dessen Inhalt als vielmehr mit der Frage: warum im Jazz der Frage „ist das nun improvisiert oder nicht?“ eine so große Bedeutung zugemessen wird.
Peter Elsdon sieht darin eine bestimmte Absicht, oder - mit meinen Worten - ein Stück Jazz-Ideologie.

PETER ELSDON
„Improvisation“ kann eine sehr attraktive Idee für den Hörer sein. Das ist z.B. einer der Gründe, warum ich mich für Keith Jarrett interessiere.
Ich habe mich Jarrett zugewandt, weil ich fasziniert war von der Idee: da ist jemand direkt vor mir, der sozusagen vor meinen Augen improvisiert. Und ich höre der Musik zu in dem Moment, wo sie entsteht.
Ich denke, einige Musiker betonen den Faktor „Improvisation“ auch deshalb, damit wir ihre Musik dann auf eine ganz bestimmte Art und Weise hören.
Und sie auch anders bewerten - nämlich im Gegensatz zu der nicht-improvisierten Musik.

PETER ELSDON
Es fällt ja auf: fast jedes Jarrett-Konzert, das veröffentlicht wird, wird von einer Geschichte begleitet, aus welchen Gründen dieses Konzert ein besonderes war. Im Falle des Köln Concert: dass Jarrett nicht geschlafen habe und ein schlechtes Klavier hatte. Bei den Konzerten 1973 waren es Rückenschmerzen.
Für mich als Akademiker ist dabei ganz entscheidend, dass diese Geschichten von Jarrett ausgehen. Er erzählt sie. Und ich denke, er wird schon seine Gründe dafür haben. Er will, dass wir eine Aufnahme als das Resultat eines kreativen Kampfes betrachten.
Das bedeutet nicht, dass die Geschichten falsch sein müssen, keineswegs. Aber, sie werden in einer bestimmten Absicht erzählt. Als sollte der Hörer gelenkt werden. Wie Sie schon sagten: der Hörer soll zu einem bestimmten Hören veranlasst werden.
Ja, das denke ich auch.

PETER ELSDON
Es gibt ein aufschlußreiches Zitat von Keith Jarrett in down beat:
„Wenn ich spiele, dann komponiere ich. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich improvisiere.“
Ich denke, er markiert dabei sehr feine Unterscheidungen.
Er sagt nicht, dass er nicht improvisiert. Er bringt aber zum Ausdruck, dass seine Art von Improvisation sich von der Improvisation anderer Musiker unterscheidet.
Und dass dieser Unterschied zum Teil darauf zurückgeht, welche Struktur er diesen Improvisationen verleiht.

MODERATON
Peter Elsdon betont in Oxford: Keith Jarrett ist nicht der einzige Jazzmusiker, der seine Art der Improvisation gegenüber anderen Kollegen als höher-wertig einstuft, aber er verfolgt diese Idee am prägnantesten.

PETER ELSDON
peter elsdonJeder Musiker, der schon so lange improvisiert wie Keith Jarrett, hat einen sehr großen Fundus an Ideen und Informationen aufgebaut. Das bedeutet: je länger man improvisiert, desto schwerer wird es, etwas zu spielen, was man zuvor noch nie gespielt hat.
Ab einem bestimmten Punkt ist es geradezu unausweichlich, dass Musiker sich wiederholen - nicht wortwörtlich, aber in einer subtilen Art und Weise.
Wenn man - wie ich - mit Leuten spricht, die sowohl Soundchecks von Jarrett als auch das anschließende Konzert erlebt haben, dann berichten die von ganz eindeutigen Verbindungen.
Mit anderen Worten: eine Idee, die bei einem Soundcheck auftaucht, findet sich auch später im Konzert wieder.
Beim Schreiben meines Buches stieß ich auf eine hoch-interessante Beobachtung eines Jarrett-Fans aus Italien, und zwar von der Tour 1975, auf der auch das „Köln Concert“ stattfand.
Wie aus den Bootlegs dieser Tournee hervorgeht, startet Jarrett die zweite Hälfte mit einem Thema, das Teil der „Survivors Suite“ wurde. Diese zweite Improvisation beginnt also mit etwas, was offenkundig keine Improvisation ist und langsam Gestalt annimmt. Dies geschieht aber sehr selten. Es gibt ein anderes berühmtes Beispiel aus den „Sun Bear Concerts“, das auch anderswo noch auftaucht.
Wie gesagt, solche Fälle sind selten. Es gibt aber bestimmte Beispiele, wo etwas, was wir für Improvisation halten, mit einem Teil beginnt, der definitiv geplant war.

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Obwohl er ständig betont, dass er nichts vorbereitet und viele Journalisten ihm das abnehmen!

PETER ELSDON
Genau! Und mein Ansatz in dieser Frage ist sehr pragmatisch. Wenn man - wie er - an jedem oder jedem zweiten Abend auf einer 15-Städte-Tournee spielt, dann wird man irgendwann müde. Ich sehe kein Problem darin, er kann ruhig hier und da komponiertes Material heranziehen.
Es zeigt aber wieder einmal, dass wir sehr hohe Ansprüche an das stellen, was Improvisation sein sollte.

DAN GOREN trumpet improvisation


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Hier wird improvisiert im Dienste der Wissenschaft.
Dan Goren von der Oxford Brookes University steht im Ashmolean Museum in Oxford und blickt auf ein Gemälde aus dem frühen 17. Jahrhundert. Es zeigt die Grablegung Christi. Er setzt das, was er sieht, in Musik um.
Viele Musiker haben sich auf diese Weise von Bildern inspirieren lassen, zuletzt Tim Whitehead in London von Turner-Bildern.
Dan Goren aber ist ein spezieller Fall. Er trägt eine leicht über-dimensionierte Brille, so genannte „eye tracking“-Technologie.
Nicht nur, was er spielt, sondern auch wohin er dabei blickt, wird präzise aufgezeichnet.

DAN GOREN
dan goren 2
Der Grundgedanke meines Projektes war folgender: ich wollte herausfinden, was ein improvisierenden Musiker denkt, wenn er spielt. Indem ich auf ein Kunstwerk blicke, gebe ich mir oder einem anderen Musiker ein Objekt, auf das man die Gedankenprozesse beziehen und mit den Improvisationen vergleichen kann. Die wiederum selbst eine sehr abstrakte Form haben.
Es geht also darum, geistige Prozesse in einer solchen Performance herauszufinden.


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Man weiss also jetzt, dass Dan Goren beim Spielen am häufigsten auf Jesus geschaut hat, nämlich zu 37 Prozent. Man kann auch ultra-präzise nachvollziehen, dass ihm zu „Jesus“ etwas anderes einfällt musikalisch als zu „Maria“.
Aber, damit sind seine „geistigen Prozesse“ doch noch nicht offengelegt, oder?

DAN GOREN
Dem würde ich in gewisser Weise zustimmen. Ja. Ein Teil des Projektes war, die Performance als Musiker nachzuvollziehen; was ich gespielt und was ich gedacht habe, aufeinander zu beziehen. Und das wirft ein Licht auf einige meiner Gedanken.
Aber, das ist ganz sicher der schwierigste Teil dieser Art von Forschung.

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Noch ein Fakt, der der Erklärung bedarf: die Videoaufzeichnung belegt, dass DAN GOREN während seiner Improvisation zu 70 Prozent auf das Gemälde geschaut hat - wohin aber hat er während der restlichen Zeit geblickt?

DAN GOREN
Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute, dass während dieser Zeit meine Augen geschlossen waren.
Ich glaube, einer der Gründe dafür ist: es ist schwer, das Gemälde in sich aufzunehmen und zugleich musikalisch darauf zu reagieren. Das erfordert eine Menge an geistiger Energie.
Es gab Momente, wo ich mich tiefer gehend durch die Musik ausdrückt habe. Ich habe also die Informationen gespeichert, meine Augen geschlossen und meine Resonanz auf das Bild gespielt.

MODERATION
Dan Goren und die eye-tracking-technology - einstweilen beeindruckt die Technologie mehr als die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er damit erzielt hat.
Aber, er steht damit erst am Anfang, und es lassen sich etliche Einsatzmöglichkeiten dafür erträumen.

DAN GOREN
Interessant wird sein, diese Technik auch für weitere Künstler zu öffnen, und dann deren Aktivitäten miteinander zu vergleichen. Man könnte auch ein und denselben Künstler auf sehr verschiedene Kunstwerke blicken lassen, vielleicht auch auf grafische Partituren.
Ich glaube, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten.

LES EMEUDROÏDES Villeuses Volutes

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Die eye-tracking-technology (also, Blickrichtungen der Augen aufzuzeichnen und mit der gespielten Musik zu verbinden), sie dürfte auch interessant sein für den Sozialwissenschaftler Clement Canonne von der Université de Bourgogne in Frankreich.
Auch er steht am Anfang. Dabei hat er sich einen ganz schwierigen Brocken vorgenommen: die kollektive Freie Improvisation, bei der Musiker aufeinandertreffen, die zwar als Improvisatoren erfahren sind, aber noch nie miteinander gespielt haben.
Diese Musik lässt Zuhörer nicht selten ratlos zurück. Und wie eine Studie von Clement Canonne zeigt, geht es den Musikern nicht prinzipiell anders: der Grad ihrer Übereinstimmung, wie sie während des Spielens das klingende Resultat gemeinsam als positiv oder negativ bewerten, betrug lediglich 46 %.
In einer zweiten Studie teilte Canonne 20 Musiker in wechselnde Trios auf. Sie spielten ohne Sichtkontakt in je eigenen Kabinen und sollten immer dann ein Fußpedal drücken, um damit kundzutun: „Jetzt habe ich den Musikprozess verändert!“

CLEMENT CANONNE
Direkt nachdem sie ihre Studio-Kabinen verlassen hatten, konnten die Musiker sich die Aufnahme anhören und in verschiedene Abschnitte aufteilen.
Sie stimmten dabei weitgehend überein: „das hier ist Teil 1, dort beginnt Teil 2“ usw. - kein Problem für sie.
Mir aber fiel auf, dass diese Abschnitte im Durchschnitt viel länger waren als die Dauer der individuellen Beiträge.
D.h. die Musiker neigen dazu, ihre Beiträge sehr häufig zu ändern - im Durchschnitt alle 50 Sekunden -, aber der globale Eindruck zeigt: die Musik insgesamt verändert sich viel langsamer.
Dahinter steckt ein komplexer Prozess von Abstimmungen, Interpolationen und sich entwickelnden Übergängen.
Wenn der Einzelne meint: „Ja, jetzt ändert sich was, wir treten in eine neue Phase ein“ - dauert das tatsächlich viel länger.
D.h. die Eindrücke, die der externe Zuhörer gewinnt und auch der Musiker nach der Aufnahme, sie sind ganz andere als während des Spielens selbst:
„Ja. Ja. Ja. Ich habe was verändert!....“
„Nein, nein - das meinst Du nur. Es braucht noch viel mehr Zeit.“


MILES DAVIS QUINTET If I were a Bell

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Auch die gute alte Musikwissenschaft war in Oxford vertreten, und zwar glänzend durch Olivier Senn von der Musikhochschule Luzern.
Sein Thema: eine Analyse der sehr unterschiedlichen Improvisations-Strategien von Miles Davis und John Coltrane, bei einem Konzert in Zürich 1960.

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Das Miles Davis Quintet spielt „If I were a bell“, einen Standard von Frank Loesser in der üblichen 32-Takte-Form.
Darüber improvisieren sowohl Miles Davis als auch John Coltrane, aber sie hängen eine Vielzahl von so genannten tags an. Das sind in diesem Falle sich ständig wiederholende 4 Takte in F.

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„If I were a bell“, das Miles Davis Quintet am 8. April 1960 in Zürich. Miles Davis spielt in seinem Solo, jedenfalls in den „tags“, die  Olivier Senn analysiert, sehr reduziert und einfach...

OLIVIER SENN
Es ist sozusagen zweistufig, weil der Song "If I were a Bell" als Grundlage nun mal da ist, aber schon beim Arrangement Miles Davis Änderungen vornimmt, die nach seiner Meinung die Solisten, die Improvisatoren befreien sollen. Über diese 32 Take machen sie sehr unterschiedliche Dinge.
Worum es mir ging, ist: dieser Raum, den Miles Davis schafft, indem er diese tags anhängt, dass man denjenigen Teilen des Solos, die durch die changes, also das Harmonieschema und die 32 Takte bestimmt sind, sozusagen einen "Freiraum" anhängt. Wo der Solist selber sagen kann: 1. wie lange es dauert, 2. was er darüber spielen will und 3. ob er überhaupt sich an die Regeln halten will, die durch die Harmonieform des tags, diese 4 Takte, bestimmt sind.
Er selbst bleibt in diesem Rahmen drin, findet aber durch seine Art von melodischer Improvisation zu einer extremen Sensiblität, in meinen Augen oder in meinen Ohren vor allem; wie er mit dieser Freiheit umgeht, indem er sozuagen im Kleinen die Freiheit hat. Wie wenn man z.B. sagt: mein Tagesablauf ist fix, aber ich kann das so machen oder auch so machen.

OLIVIER SENN
olivier sennUnd John Coltrane, er bricht dann aus sozusagen aus der Harmoniefolge und macht völlig davon abweichende Dinge. Und da stellt sich dann die Frage auch: wo ist das Fremdbestimmte und das Selbstbestimmte? Weil er sich wahrscheinlich schon sehr viele Gedanken gemacht hat und sich sozusagen durch die Art und Weise, wie er geübt hat; wie er sich überlegt, dass er 3 Akkorde auf einen legen kann, dass er sich schon wieder patterns zurecht legt und sozusagen einen "Ausbruchsplan" macht aus dieser tonalen Situation. Da kann man wirklich an vielen Punkten sehen, wie Fremdbestimmung und Selbstbestimmung sich irgendwie gegenseitig bedingen, und es um die Frage geht: wenn ich jetzt, in diesem Moment etwas machen will - woher kommt jetzt eigentlich die Entscheidung, das so zu tun, wie ich es tue?

MODERATION
„If I were a bell“, das Miles Davis Quintet am 8. April 1960 in Zürich.
Miles Davis spielt sehr reduziert und einfach. John Coltrane hingegen sehr komplex, er durchrast stellenweise 3 Akkorde auf einmal.
Obwohl Olivier Senn Musikwissenschaftler und kein Hirnforscher ist, kommt er doch zu einer verwandten Erklärung: nämlich dass John Coltrane - ohne genau zu wissen, was er spielt - unbewusst aus seiner Übepraxis schöpft.

OLIVIER SENN
Weil wir da auch immer an Muster denken müssen, die auch eintrainiert werden und nicht bewusst sind.
Coltrane war ja bekannt dafür, dass er geübt und geübt hat. Wenn andere ein Bier trinken gingen, ging er in den Keller und spielte Saxophon. D.h. er übte Muster ein, die er dann auch reproduzierte. Was da passiert - da kann er gar nicht so viele Gedanken gehabt haben, im Sinne von "Oh ja, jetzt kommt Fis-Dur, dann geht es nach F etc." Das wird er wahrscheinlich bewusst nicht so gedacht haben.
Sondern er hat sich in seiner Übepraxis Muster zurecht gelegt, die eine Art "Weg" durch die Harmonien vorzeichnen. Das ist, wie wenn man sozusagen im Sand eine Linie zieht, und dann das Wasser dort ´runterläuft, weil es eben jetzt gerade in diese Rinne gekommen ist.

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„Improvisation und Improvisieren“, Eindrücke von einer Musikkonferenz in Oxford.
Dies war der erste Teil, in dem es vorwiegend um praktische Improvisationsforschung ging. Der zweite Teil, am 19. Januar 2013, beschäftigt sich mehr mit den sehr unterschiedlichen Arten des Improvisierens, und das weit über die Musik hinaus.
Einen kleinen Vorgeschmack gibt einer der Organisatoren des Symposiums in Oxford, der bekannte britische Musikpsychologe Eric Clarke.

ERIC CLARKE
Der positive Aspekt daran, dass Improvisation inzwischen mehr Interesse findet und auch erforscht wird, das Positive daran ist, dass Improvisation deutlicher ins Licht der Öffentlichkeit gerückt ist.
Die Herausforderung, die sich zugleich damit verbindet, ist, unser Nachdenken über Improvisation viel mehr zu verfeinern.
Stellen wir uns zum Vergleich mal vor: das Studium von „Musik“ sei bis vor kurzem ignoriert worden. Und wir würden nun sagen, „schön, dass wir eine Konferenz über ´Musik´ hatten! Wir können nun weiterforschen an ´Musik´“.
Über kurz oder lang würden wir uns fragen: „Was meinen wir eigentlich mit ´Musik´? Es gibt doch so viele Arten von Musik, wir müssen doch Unterscheidungen treffen! Genaue Definitionen müssen her!“
Und ich meine: das ist genau ist die Lage der Improvisation. Die Definitionen greifen zu kurz, sie sind zu singulär, zu verdinglicht. Wir müssen sehr viel mehr interne Unterscheidungen treffen.
Ich habe dazu auf der Konferenz vorgeschlagen: vielleicht ergäben sich ja Vorteile, wenn wir aufhörten, von „Improvisation“ so zu sprechen, als handele es sich um ein und dieselbe Sache. Und stattdessen Improvisieren verwenden, als Tätigkeit, als Prozess, der sich in vielen Formen in vielen musikalischen Genres abspielt.

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*AARON L. BERKOWITZ The Improvising Mind. Cognition and Creativity in the Musical Moment. Oxford University Press, 2010.