Improvisation, eine Qualität des Lebens (2)

Von Keith Jarrett bis Angela Merkel

2. Film

SWR 2, 16.03.2017

MODERATION
…mit Michael Rüsenberg.
„Improvisation, eine Qualität des Lebens; von Keith Jarrett bis Angela Merkel“.
Heute, in der zweiten Folge dieser Reihe, spielt Musik scheinbar nur noch eine Nebenrolle. Es geht um eine Gattung der Kunst, in dem ein zentraler Begriff die Abwesenheit von jeglicher Improvisation zu belegen scheint, der Begriff heisst „Drehbuch“.
Ja, es geht um Film.
Auch dort wird gelegentlich improvisiert; seit Jahrzehnten, spätestens seit John Cassavetes, 1959, bis hin - ja, Sie hören richtig - bis hin zum  „Tatort“.



CHARLES MINGUS Nostalgia in Times Square 1:13 (Ausschnitt)
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Shadowsposter

MODERATION

Charles Mingus, „Nostalgia in Times Square“, 1959.
In den liner notes zu dem betreffenden Album heisst es, das Stück sei Teil der Musik gewesen, die Mingus für den Film „Shadows“ von John Cassavetes geschrieben habe.
Nur, wer den Film sieht, der hört nicht einen Takt von „Nostalgia in Times Square“ - der Regisseur wollte, dass Mingus improvisiert, der aber wollte fertige Stücke abliefern.
Schließlich veröffentlichte er „Nostalgia in Times Square“ später selbst.
Im Film hört man ihn nur mit ein paar Minuten Solo-Bass und ansonsten seinen Saxophonisten Shafi Hadi.

 

ABSPANN-MUSIK Shadows, 1:13
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MODERATION
Das ist die Tonspur aus der Schlußszene von John Cassavetes´ „Shadows“, 1959: Dennis, ein nicht mehr ganz junger Herumtreiber, im nächtlichen New York, auf dem Weg nach Hause.
Die Kamera folgt Dennis, und wir sehen noch eine Einblendung:

ZITAT
„Der Film, den Sie gerade gesehen haben, war eine Improvisation.“

Cassavetes.Shadows.EndCredits.1MODERATION
Dieser Satz ist irreführend. „Shadows“ wird häufig herangezogen, wenn es um Film & Improvisation geht. Der Film hat eine improvisatorische Anmutung, ja.
Aber die Dialoge sind aufgeschrieben, sie wurden bestenfalls improvisatorisch erarbeitet, in Workshops mit dem Regisseur.
Die Beweglichkeit der Kamera ist neu: sie folgt den Schauspielern, und nicht mehr umgekehrt.

MILES DAVIS Julien dans l`ascenseur, 2:11
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MODERATION
4. Dezember 1957, Miles Davis spielt die Musik zu Louis Malle´s Film „Fahrstuhl zum Schafott“.
Die Bilder sind fertig, Miles Davis improvisiert mehr oder weniger dazu; das Verhältnis Film & Musik ist hier nicht prinzipiell anders als zur Stummfilmzeit.
Wo aber wäre das Improvisatorische im Film zu finden?
Der französische Filmtheoretiker Gilles Mouellic hat 2013 eine Studie dazu veröffentlicht: „Improvising Cinema“.

ZITAT Gilles Mouellic

Im Kino ist Improvisation nur einer von mehreren Faktoren, nur eine Stufe im Prozess des Filmens. Es ist daher schwierig, von „improvisierten Kino“ zu sprechen, wohingegen es möglich, ja fast schon doppelt gemoppelt ist, Jazz als „improvisierte Musik“ zu bezeichnen.

MODERATION
Großen Raum nimmt in „Improvising Cinema“ die Nouvelle Vague ein, eine Strömung des französischen Films der 50er und 60er Jahre, insbesondere verkörpert durch Jacques Rivette.
1971 stellt er zum ersten Mal einen Film vor, der in einer endgültigen Fassung erst 1990 und jetzt auch digitalisiert vorliegt: „Out 1“, mit 12 1/2 Stunden der längste Film der Filmgeschichte - und komplett improvisiert.
Dem früheren WDR-Redakteur Wilfried Reichart, der auch für die Fertigstellung des Filmes mit-verantwortlich zeichnet, verdanke ich die beiden folgenden Interview-Ausschnitte.
Zunächst der 2016 im Alter von 87 Jahren verstorbene Regisseur Jacques Rivette.

JACQUES RIVETTE
rivette jacques 004 smiling in scarf 00o 3b8 ORIGINALWas ich nicht machen will - und wie mir geht es vielen Cineasten -
das sind Filme, die bereits vorher fertig geschrieben sind. So entstand z.B. „Paris gehört uns“ und „Die Nonne“. Und das war ziemlich langweilig.
Auch bei „Out 1“ gab es kein Drehbuch, sondern nur einen mehr oder weniger skizzierten Ablauf. Wir hatten eine Liste der mitwirkenden Personen und wollten die Geschichte einer Nachforschung drehen.
Was aber innerhalb der einzelnen Sequenzen gesprochen werden sollte, war völlig offen. Es geschah dann ausschließlich nach dem Prinzip „Heute drehen wir drei Szenen mit Doniol-Valcroze; eine erste Szene, in der er Michel Lonsdale trifft; eine zweite Szene, wo er Francoise Fabian trifft und eine dritte Szene mit Juliet Berto. Die ihm Briefe stiehlt".
Das war alles, was man wusste. Und anschließend spielte sich alles in einer mehr oder minder wilden Improvisation ab.

MODERATION
Und hier ist einer der damals Beteiligten: der Filmkritiker und Schauspieler Jacques Doniol-Valcroze.

JACQUES DONIOL-VALCROZE
Doniol Valcroze 1Alles war improvisiert. Rivette wollte seinen Schauspielern nichts sagen.
Man wusste nur sehr vage Bescheid, dass es sich um „Die Geschichte der dreizehn“ von Balzac handelt.
Eines schönen Morgens fand ich mich hier in der Nähe auf einer kleinen Seine-Insel, zusammen mit Michel Lonsdale und später mit Francoise Fabian. Und jeder erzählte Geschichten, die völlig unverständlich waren.
Ich hatte z.B. eine Szene mit Francoise Fabian. Sie holte plötzlich Briefe aus ihrer Tasche und sagte: „Das ist es also, was du mit meinen Briefen machst!“ Ich wusste nicht, ob es sich um Liebes- oder Geschäftsbriefe handelte.
Und weil ich wissen wollte, worum es ging, sagte ich: „Man muss mir die Briefe gestohlen haben!“
Am Nachmittag drehte Rivette dann eine Szene, in der mir Juliet Berto die Briefe stahl - um das zu motivieren, was ich gesagt hatte. Es war eine fantastische, vielleicht eine sehr fruchtbare Erfahrung für mich.

FRANZ KOGLMANN Rivette, 6:39
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MODERATION
SRW2 NOW JAZZ: „Improvisation, eine Qualität des Lebens, von Keith Jarrett bis Angela Merkel“, heute die zweite Folge: „Improvisation im Film“.
Diese Musik klingt, als gehörte sie zu einem Film der Nouvelle Vague, vielleicht aus einem Werk von Chabrol, Truffaut oder Rivette.
Aber, Rivette´s „Out 1“ enthält gar keine Musik, 12 1/2 Stunden nicht.
Diese Komposition trägt aber tatsächlich den Titel „Rivette“.
Sie stammt von einem der intellektuellen Jazz-Komponisten Europas, der weiß, was er tut: Franz Koglmann aus Wien: „Rivette“ mit dem Klangforum Wien, eine Aufnahme aus dem Jahre 2001.
Rivette oder auch Cassavetes - der Regisseur Alexander Kluge aus München kennt sie selbstverständlich.

ALEXANDER KLUGE
Das sind die Meister. Aber ich bin auch in der Nähe von manchen Godard-Filmen, ich bin in der Nähe von Eisenstein und vor allem von Vertov. D.h. also in der Filmgeschichte ist diese Neugierde der Kamera und des Kamerateams, und das beruht darauf, dass ich die Parameter des Films einzeln frei lasse. Das Bild darf frei agieren und ist nicht geknechtet durch das Gesetz Tonfilm. Der Ton kriegt gewisse Freiheiten - das kann ich nicht beliebig machen, dann entsteht ein Experimentalfilm.
   
MODERATION
Ich treffe Alexander Kluge auf einem Improvisationsfestival in München. Er zeigt dort seine Fernsehdialoge mit dem Komiker Helge Schneider. Und obwohl die Kamera dabei starr bleibt, versteht er die Szenen auch als eine „Form von Improvisation“.

ALEXANDER KLUGE

Wenn ich z.B. absichtlich mit Helge Schneider einen Dialog anfange - der unterbindet mir das nach drei Sätzen. Der will nicht, dass ich irgendwelche Planungen durchführe. Der sagt „Ich bin doch kein Schauspieler. Ich sag´ doch nicht deine Texte auf“.
Ich weiß nicht, was er sagt und antworten wird, und er weiß nicht, was ich sage.

Szene HELGE SCHNEIDER, „Einsatz“, 0:27


MODERATION
Helge Schneider als Simon Rattle.


Szene HELGE SCHNEIDER, „Beethoven, Teil 1“, 0:47
Helge 1

 

 

 

 

 

 

 

 

ALEXANDER KLUGE
Ich glaub´s doch, dass das ernsthaft ist. Und er karikiert im Grunde diesen Dressurakt des Konzertsaals. Der Konzertsaal ist ein programmierter Saal.
Es ist ja eigentlich absurd, wenn der Mahler selber Komponist ist, als Dirigent doch gezwungen ist durch das Publikum, durch das Haus usw. ewig dasselbe zu repetieren.
Er könnte doch sozusagen 2. Satz der Fünften Sinfonie von
Beethoven ausbüchsen und einen ganz anderen Schlußsatz dranhängen.
Bach hätte so etwas gemacht, Monteverdi macht das auch. Techno macht das, zum Jazz gehört´s. Und dass im Konzertsaal keine Improvisation möglich ist, das macht der fest an dieser leichten Veralberung. Nonsense machte der, aber ernsthaft ist er.

Szene HELGE SCHNEIDER, „Beethoven, Teil 2“, 0:36

victoriaTrailer VICTORIA, 0:36
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MODERATION
Das ist der Trailer zu einem Film, der die Debatte „Improvisation im Film“ jüngst auf Touren gebracht hat wie kaum ein Werk zuvor:
„Victoria“ von Sebastian Schipper aus Berlin, 2015.

Trailer VICTORIA (Forts), 1:19
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MODERATION
„Victoria“ von Sebastian Schipper ist ein Film der Extreme.
Das Drehbuch umfasst lediglich 12 Seiten und enthält keinerlei Dialog, sondern nur eine grobe Story und Beschreibungen der sechs Rollen.
„Victoria“ dauert 2 Stunden und 20 Minuten und ist in einer Einstellung gedreht, d.h. es gibt keinen einzigen Schnitt; der Kameramann setzt 2 Stunden und 20 Minuten nicht ab; Filmzeit ist Realzeit, den Schauspielern ist zum Schluß die Anspannung anzusehen.

ZITAT Sebastian Schipper
Die Qualität des Films besteht (…) nicht darin, dass er in einer Einstellung gedreht wurde, sondern was die Beschränkung auf eine Einstellung für Folgen hatte: Die Schauspieler haben wirklich gebrannt für ihre Rollen; dauernd herrschte das Gefühl, gerade noch an der Katastrophe vorbeigeschrammt zu sein.

MODERATION
Ein Zitat des Regisseurs aus dem Presseheft zu „Victoria“.
Die Motivation zur Improvisation lautet heute bei Sebastian Schipper nicht so viel anders als bei Jacques Rivette, vor bald 50 Jahren.


SEBASTIAN SCHIPPER
Dieser Begriff „gebrannt für die Rollen“ hat natürlich immer was von so einer jugendlichen „Hauptsache, man steht komplett in Flammen“-Einstellung. Und das stimmt natürlich nicht. Das Wichtigste ist, dass man weiß, was man tut und wer man ist. Und dass man dann in der Lage ist, einen Zugang dazu zu finden, was in einem steckt, oder was noch viel größer ist als man selbst.
Aber, im Prinzip ist das richtig.
Ich habe das Gefühl, wenn ich Filme gucke, dann schaue ich meistens Schauspielern dabei zu, die Drehbuchsätze auswendig gelernt haben. Das interessiert mich nicht.
Mich interessieren Menschen. Ich glaube, einem anderen Menschen zu begegnen, ist das Größte, was uns passieren kann, das Schlimmste, das Schönste, das Verführerischste, das Enttäuschendste, Kränkendste, das Lustigste - davon erzählt Kino mehr als jede andere Form, die wir haben.
Auf der Bühne - das sind ganz tolle Sachen, aber wir sind nicht so nah dran an der Intimität von einer Kamera, die Leute filmt.
Und dass das verschwendet wird damit, dass ich, wie gesagt, nicht   Menschen sehe, sondern dass ich Schauspieler sehe, wie sie ihren Beruf ausüben...
Das ist ja so eine Kunstform geworden, man kann sich ja Filme  angucken, und wenn man sich mal kurz vorstellt in 99 von 100 Filmen, so würde irgendjemand mit mir reden. So würde sich irgendjemand mir gegenüber aufführen, wie das jetzt diese Leute alle da tun, dann würde man denken „ja, die haben doch alle einen Knall!“


FILMMUSIK VICTORIA Our Own Roof, 5:19
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MODERATION
Ganz gegen die Anmutung des Trailers spielt Techno-Musik in „Victoria“ nur eine untergeordnete Rolle. Es gibt Szenen in einem Club - man sieht Gäste ausgelassen tanzen -, die kommen ohne jede Musik aus.
Die Filmmusik von Nils Frahm ist nicht improvisiert, mit ihrem kontemplativen Charakter steht sie im Kontrast zu der teilweise hoch-dramatischen Handlung.

SZENE aus Victoria (kurz unterblendet)

Victoria 1MODERATION
„Victoria“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Madrid, die in Berlin in eine Gruppe junger Kleinkrimineller gerät.
Spaß und Flirt schlagen peu a peu um in tödlichen Ernst. Einer aus der Gruppe muss, noch aus Zeiten im Knast, eine Schuld begleichen. Die anderen - und schließlich auch Victoria, aus bürgerlichem Hause - machen, aus „Solidarität“, seine Sache zu der ihren: sie machen mit bei einem Banküberfall, der sie völlig überfordert.
Wenn der Regisseur Sebastian Schipper über den Film spricht, liebt er musikalisches Vokabular.

SEBASTIAN SCHIPPER

Victoria ist ein sehr klassischer Song. „Märchen“ klingt immer so ein bißchen triefend, aber im Prinzip ist es „Die Prinzessin und die Wölfe“. Die Prinzessin wird aus ihrem Schloß verstoßen; und die Krone wird ihr weg-genommen und ihr wird gesagt „du hast hier nix mehr zu suchen!“
Und sie ist im dunklen Wald, und sie pfeift sehr laut, damit sie keine Angst hat. Und sie trifft diese Wölfe, aber die sind eigentlich so puppy Wölfe, das sind keine bösen, abgebrühten, sondern die sind so süß.
Und vielleicht ist es die Geschichte davon, dass die Prinzessin irgendwann sagt „wenn ich schon hier im dunklen Wald bin - dann will ich auch im dunklen Wald sein. Das mache ich jetzt auch richtig! Wenn ich das schon vorher richtig gemacht habe, dann mache ich das jetzt hier auch richtig!“
Und sie wird unter diesen Wölfen, sie wird in dieser Nacht zu einem sehr starken Tier. Das ist für mich das Märchen, das da zu Grunde liegt. Das war in den 12 Seiten der Ansatz, aber das haben wir entwickelt.
Natürlich, wenn ich das hier jetzt so erzähle, könnte man denken „huch! naja!“. Aber das ist für mich wie so ein Amy Winehouse-Song. Wie so ein Soul- ganz viel Jazz drin, ganz viel Anleihen, wo Jazz, gesungener Jazz, woher der kommt. Aber es war ihre Musik, mit ihrem Schmerz, mit ihrer Verzweiflung, mit ihren Momenten:
„Ich weiß nicht, ob ich dieses Leben aushalte; ob ich es als Mensch, der ich bin, in dieser Welt überleben werde“.

AMY WINEHOUSE A Song for you, 4:09
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MODERATION
Wie gesagt, „Victoria“ basiert nicht auf einem Drehbuch, es gab lediglich ein Konzeptpapier von 12 Seiten, darin der grobe Verlauf der Handlung und Beschreibungen der 6 Hauptrollen. Zwei Schauspieler haben nicht mal diese 12 Seiten gelesen.
Aber, sie, der Regisseur, das gesamte Team haben 10 Tage lang geprobt und den Film schließlich in drei Durchläufen aufgenommen. Das war die Zeit der Improvisation.
Die Kinoversion war die dritte, entstanden in Realzeit am 27. April 2014; morgens, zwischen 4:30 und 7 Uhr in Berlin-Kreuzberg und Berlin-Mitte.
Charles Mingus - mit dem wir die Sendung musikalisch begonnen haben - hat die Improvisations-Debatte um einen wichtigen Satz bereichert. Ich frage Sebastian Schipper, ob auch er mit dem Satz von Mingus etwas anfangen könne:
„You can´t improvise on nothing, you gotta improvise on something“

Zitat Mingus
Du kannst nicht über Nichts improvisieren - du musst schon über Etwas improvisieren.

SEBASTIAN SCHIPPER
Yes, Sir! Ja klar.Das haben auch meine Schauspieler im zweiten take missverstanden. Die haben gedacht, sie müssten alles neu erfinden!
Beim ersten take haben sie ganz brav das alles heruntergespielt. Alle hatten schön - wenn man das jetzt auf das Studio übertragen würde - alle hatten schön ihre Kopfhörer auf und haben schön so musiziert. Und beim zweiten Mal haben sie alle gedacht, sie müssten die Instrumente wechseln; jeder spielte das, was er gar nicht gut kann und musste sich was Brandneues ausdenken. Das interessiert keinen.
Dann kam so eine Aggression ´rein. Wir waren eine ganz funktionale Truppe, wir haben uns wirklich geliebt, wir haben auch das Projekt geliebt. Das war romantisch - so romantisch, wie ein Regisseur mit seinen Schauspielern, mit seiner Crew nur sein kann. Aber dann haben die einen Scheiß verzapft im zweiten take, dass ich echt ´ne Bombe gezündet habe.
Auch weil ich soviel Angst hatte. Weil mir mit einem Male klar wurde, dass das alles überhaupt nicht geht. Dass ich die total überfordere. Dass die das nicht können!


VICTORIA-SZENE, „Überfall“

MODERATION
SturlaDass Schauspieler vor einer Kamera improvisieren, indem sie Dialoge erfinden oder verändern, indem sie sich jedes Mal anders bewegen - das ist nicht neu im Film. Das gab es schon bei Jacques Rivette, 1971, und auch in den Jahrzehnten davor.
Improvisierter Film entsteht erst dadurch, dass das, was den Film ausmacht, auch improvisiert - nämlich die Kamera.
In dieser Hinsicht ist „Victoria“, auch dank der Digitaltechnik, ein Sonderfall.
Wie gesagt, der Film hat keinen einzigen Schnitt. Der Kameramann Sturla Brandth Grøvlen setzt 140 Minuten nicht ab. Er ist immer dabei: im Club, auf dem Dach, auf der Straße, in Autos; er folgt den Schauspielern 7 km durch Berlin; und einige Szenen sind an Dramatik kaum zu überbieten.

SEBASTIAN SCHIPPER
Ich weiß auch immer noch nicht, wie er das gemacht hat.
Der ist jung. Der war Bildender Künstler, bevor er Kameramann wurde. Der hat Dokumentationen gedreht. Aber vielleicht ist das Entscheidende bei Stola, dass er in Ermangelung eines besseren Begriffes so eine skandinavische Sonnenblume ist. Dass da wirklich in dem Wesen dieses jungen Künstlers das künstlerische, radikale Anliegen sich tatsächlich paart mit einem fast nicht existenten Ego.
Die Kränkung hinterlässt bei ihm kaum Spuren.
Ich habe mal irgend so ein Interview gelesen von so einem Stürmer, der hat gesagt „ich bin dem Moment gut geworden, wo ich mir die verpassten Chancen verziehen habe“. Ich glaube, das sind die großen Mittelstürmer, denen es egal ist, die spielen sofort weiter. Und ich glaube, das ist eben in Sturla auch drin.
Die Spieler sind teilweise nicht aus den Türen ausgestiegen, die vereinbart waren. Er wusste ganz genau, und er wollte, dass das elegant ist, trotz allem. Er wollte, dass das im Fluss ist. Und dann passieren natürlich dauernd Sachen, die nicht so verabredet waren.
Damit musste er klarkommen. Mein Gott, was der alles gemacht hat, der hat zum Teil die Schärfe selber gezogen. Der hat Blenden auf- und zumachen müssen, hat natürlich das Ding herumgetragen, hockte da in diesem Van, den sie nun klauen und womit sie durch die Nacht juckeln und überfallen- da hockte er in der Mitte drin, mit dieser Kamera (lacht) zwischen diesen Leuten. Wenn man sich das so überlegt, das ist schwer vorstellbar.

FILMMUSIK VICTORIA The Shooting, um die 2:00
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VICTORIA-SZENE, „Polizei, Waffen weg“

Victoria 3


SEBASTIAN SCHIPPER
Machen wir uns nix vor: „Victoria“ ist auch das Werk eines Amateurs, von einem der nicht weiß und der eine Horde dazu anstiftet zu sagen: Wir wissen´s nicht. Das ist das Tollste, was uns passieren kann.
- Aber die Methode ist für Sie, für weitere Filme verbrannt?
Das ist ja gar keine Methode. Das muss man ja auch mal ehrlicherweise sagen. Das ist ´ne hirnrissige Idee, das ist keine Methode! Das ist zum Scheitern verurteilt, das ist überhaupt nicht möglich. So sehr ich stolz auf uns bin…für mich ist es ja, als wenn wir ´ne Bank überfallen hätten. Der Gedanke, den ich da von Francis Ford Coppola geklaut habe, das ist kein Film über einen Banküberfall - es ist ein Banküberfall. Und so ist auch unser Verhältnis unter uns, wenn wir uns treffen…
Wir haben alles gegeben und noch mehr. Wir sind über uns hinaus gewachsen. Wir sind durchgedreht und haben uns zusammen genommen. Aber eins ist mal klar: wir haben das Glück, dass die Filmgötter, oder - wie ich manchmal sage - der bekiffte Althippie-Filmgott, der an dem Morgen Aufsicht hatte im Filmhimmel, dass der gesagt hat: Aaah, fuck it! Let them have it! (lacht). Das ist einfach so. Das ist keine Methode! Das ist Anti-Film auch. Das ist auch das  Tolle dran. Ich bin auch wahnsinnig dankbar dafür, dass diese Diskussion den Film nicht kannibalisiert hat, dieses „Öh, is´ ja gar nicht in einer Einstellung!“
Ich stehe jedem zu, der das an mich heranträgt, meistens sagen die Leute: „oh, ich kenn ja einige Leute, die …. das nicht so ganz glauben“. Ich denke, „was heißt hier einige Leute: DU glaubst es nicht. Aber du willst es mir jetzt nicht so sagen.“
Und ich sage immer, „ich kann das gut verstehen. Macht ja auch gar keinen Sinn. Natürlich kann man das nicht glauben. Ist einfach mal so passiert. Und wir durften dabei sein!

MUSIK shooting

AXEL RANISCH

Ich fand „Victoria“ einen hammergeilen Film. Kommt nicht so oft vor, aber manchmal gibt es Filme, da denkt man sich: „Oh, den hätte ich gerne selber gedreht.“
Also „Victoria“ hätte ich auch gerne selber gedreht. (lacht)

MODERATION
Axel Ranisch, 33 Jahre alt, aus Berlin, neben Jacob Lass ein weiterer jüngerer Filmregisseur, der improvisiert.

AXEL RANISCH
Was ich hundertprozentig unterschreibe und was ich so grandios finde an dem Film, ist, dass die Schauspieler über einen Zeitraum von zwei Stunden nicht aus ihrer Rolle ´rausfallen. Sondern dass die das durchspielen können.
Und die erleben die Geschichte am eigenen Leib ohne Schnitt, ohne Pause innerhalb von zwei Stunden. Und das macht sie so authentisch. Das ist das, was mich auch immer interessiert.
Deswegen drehe ich 30 Minuten lange takes.
Wenn ich ein Drehbuch hätte, wäre es nicht schwer, den Satz „manchmal fühle ich mich einsam“ einfach aufsagen zu lassen.
Aber um wirklich emotional dahin zu kommen, ist es was ganz anderes, wenn wir eine 15-minütige Szene haben, und am Ende dieser Szene steht der echt ausgesprochene Satz „Ich fühle mich manchmal einsam“. Das ist ein ganz großer Unterschied.

MODERATION
Mit Axel Ranisch ist die Improvisation im Mainstream-Film angekommen, Ranisch hat Anfang Februar im Schwarzwald seinen zweiten improvisierten „Tatort“ abgedreht.

Waldlust-MUSIK „Fröhlich´s Thema“, 1:29
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MODERATION
Das ist „Fröhlich´s Thema“, das Thema von Coach Simon Fröhlich. Er betreut das Kommissariat aus Ludwigshafen in einem abgelegenen Schwarzwald-Hotel.
In einer „Tatort“-Folge unter dem Titel „Waldlust“, die erst 2018 gesendet wird.
Die Schauspieler und der Regisseur haben sich u.a. mit der Musik von Martina Eisenreich auf den Dreh vorbereitet.
Die Komponistin hat auf Stichworte hin geschrieben; sie hatte keine, sie konnte keine Ahnung haben, wie die Dialoge in der betreffenden Szene ausfallen. Die Musik besteht einstweilen aus digitalen Orchester-Samples, sie wird morgen erst „real“ von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz aufgenommen.
Das ist ein großer Unterschied zu „Victoria“: die Musik existiert schon vor dem ersten Bild. Weiterer Unterschied: Axel Ranisch setzt den Film erst am Schnittcomputer zusammen.
Zwei Aspekte aber verbinden „Victoria“ mit dem „Tatort“: es gibt nur einen Handlungsablauf, aber keine vorformuliertens Dialoge. Ja, bis auf einen kennen die Schauspieler nicht einmal den Täter - oder die Täterin?
Und: der Kameramann - hier Stefan Sommer - weiß nicht, wer als nächstes spricht:
er improvisiert, d.h. er sucht ständig nach Mustern aus seiner Erfahrung.

AXEL RANISCH
Was ja dem Improvisieren oft vorgeworfen wird oder manchen Kollegen oder so -, dass wir unter Umständen zu faul sind, ein Drehbuch zu schreiben. Das ist absoluter Schwachsinn, gerade jetzt für die beiden „Tatorte“ habe ich ja ein, zwei Jahre Drehvorbereitung- und das ist wie die Sache: was man in die Ärmelweste tut… Wenn man nichts ´reingetan hat, kann man es auch nicht ´rausschütteln.
Man kann nicht improvisieren, wenn man nicht extrem gut vorbereitet ist.
Und vor allen Dingen fällt´s einem dann auf die Füsse, wenn die Schauspieler nicht extrem gut vorbereitet sind und ihre Figuren nicht in- und auswendig können.

Waldlust-MUSIK „Scherzo“, ca 0:50
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Waldlust-SZENE „704 Gramm“, 0:34

MODERATION
In dieser Szene - es ist das Bild 40 des Tatort „Waldlust“ - lässt der Coach das Team um Komissarin Odenthal das Gewicht eines Säckchens raten.
Eine spontane Idee von Coach Simon Fröhlich - gespielt von Peter Trabner -, auch der Regisseur wusste vorher nichts davon.

Waldlust-SZENE „704 Gramm“, weiter 0:48

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Waldlust-MUSIK „Scherzo“ weiter, ca 0:31
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AXEL RANISCH

Axel Ranisch











 

 



© Steffen Junghans, MDR

Ich improvisiere am laufenden Band. Ständig ändern sich die Dinge, die ich mir mal ausgedacht habe. Sie haben ja vorhin gelesen, worum es in der Szene geht. Das, was da steht, war so etwas wie in Platzhalter, den ich mir ausgedacht habe, mit meinem Autor. Das, was ich jetzt wirklich improvisierend erlebe, ist tatsächlich was anderes und hat eine ganz andere Qualität. Und führt zu andern Dingen. Und ich muss ständig fit sein im Kopf und mitrechnen, was das jetzt für Konsequenzen auf die Szene oder auf den Rest des Films hat.
- Das würden Sie als Improvisation bezeichnen?
Ja. Ich muss die ganze Zeit wach bleiben. (…) Das Hübsche ist, dass meine Improvisation darin besteht, trotzdem am Ende das zu erreichen, was ich gern an Wirkung erzielen möchte. Das funktioniert nicht, indem ich Bilder im Kopf habe oder mir eine genaue Vorstellung davon gemacht habe, wie so eine Szene aussieht - das wird jedesmal anders sein.
Ich würde sagen: in 70 % der Fälle wird die Szene anders, als ich sie mir überlegt habe. Aber, ich muss immer fit im Kopf bleiben und improvisieren, damit am Ende trotzdem die Wirkung erzielt wird, die ich gerne erzeugen wollte.



Waldlust-MUSIK „Scherzo“ weiter, ca 0:35
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Waldlust-SZENE „Ton bitte ab, Schluss Bild 42“, 0:37
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Waldlust-MUSIK „Scherzo“ weiter, kurzer Akzent
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Waldlust-SZENE „Dieses Bild ist abgedreht!“, 0:37
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AXEL RANISCH

Wenn die Schauspieler auf der einen Seite improvisieren, aber auch Regisseure und Kameraleute auf der anderen Seite, dann ist das ja ein viel größeres Miteinander.
Es rutscht von jedem ein Stückchen mehr eigene Persönlichkeit mit in die Arbeit, und man ist wie ein gemeinsam funktionierendes Organ. Ich bezeichne mich ja auch nicht als Regisseur, sondern als Spielleiter. Ich glaube, dass wir alle gemeinsam ein Spiel spielen, und ich bin der jenige, der die Leitung innehat und guckt, dass etwas daraus wird.
Und dieser Teamgedanke oder gemeinsame Gedanke und dieser persönliche Gedanke, die spielen, glaube ich, eine ganz große Rolle. Und die hat man beim konventionellen Drehen nicht.

MODERATION
Axel Ranisch, Regisseur von „Waldlust“, des zweiten improvisierten „Tatort“ überhaupt; die Ausstrahlung ist erst für 2018 vorgesehen.
Damit schließt die zweite Folge der Reihe „Improvisation, eine Qualität des Lebens. Von Keith Jarrett bis Angela Merkel“.
Die dritte Folge am 13. April in SWR2 NOW JAZZ um 23:03 Uhr wird sich mit Improvisation im Alltag sowie im Fußball beschäftigen - Bereiche, in denen vermutlich mehr improvisiert wird als im Jazz, und wo doch der Begriff „Improvisation“ verpönt ist.
Diese Folge schließt, wie sie begonnen hat: mit „Nostalgia in Times Square“ von Charles Mingus; Musik für einen Film, die es nie in den Film geschafft hat.
SWR 2 Now Jazz: am Mikrofon verabschiedet sich Michael Rüsenberg.

CHARLES MINGUS Nostalgia in Times Square ca 3:00 (Schluss)
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 © Michael Rüsenberg, 2017
Alle Rechte vorbehalten

Buch Cover

 

 

 


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