Jimi Hendrix und der Jazz

SWR2 Tandem*, 14.08.2019

Woodstock ´69
Voodoo Chile -
Jimi Hendrix und der Jazz

von Michael Rüsenberg

…im Programmschwerpunkt „Woodstock ´69“ reden wir heute nicht mit einem Gast, sondern bringen ein Musikfeature mit dem Titel: „Voodoo Chile - Jimi Hendrix und der Jazz“.
Am Mikrofon ist Michael Rüsenberg.

MUSIK Star Spangled Banner
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Heute, fast genau auf den Tag vor 50 Jahren:
Montag, 18. August 1969, morgens gegen 9: Jimi Hendrix in Woodstock.
(Wobei wir natürlich alle wissen, dass er sich nicht wirklich in Woodstock befindet, sondern im benachbarten Bethel.)
Offiziell wäre das Festival längst beendet, sein Auftritt war ursprünglich als Höhepunkt gegen Mitternacht geplant.
Aber, was heißt schon „Planung“ in diesem berühmten Chaos?
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Woodstock, am 18. August 1969, morgens gegen 9 - zu diesem Zeitpunkt haben 90 Prozent der Besucher das Gelände bereits wieder verlassen. Hendrix spielt in Sextett-Besetzung vor vielleicht 25.000 oder 40.000 Zuhörern.
Und doch schreibt er in Woodstock Geschichte. Vor allem durch das 14. von insgesamt 17 Stücken: „The Star Spangled Banner“, seine Bearbeitung der amerikanischen Nationalhymne.
Das Stück spielt er so, wie er es spielt, nicht zum ersten Mal; er hat es seit einem Jahr im Programm.
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Die Bearbeitung der amerikanischen Nationalhymne durch Jimi Hendrix avanciert - dank medialer Verbreitung auf Tonträger und Film - später zur „Hymne des Festivals“.
Unter dem Vorzeichen von „Love & Peace“ wollen bis heute viele nicht nur ein Stück Musik darin erkennen, sondern einen politischen Protest, gegen den Vietnamkrieg, gegen die amerikanische Regierung.
Der „Spiegel“ schrieb neulich gar, das Stück sei „als hellsichtiges musikalisches Sinnbild einer zerrissenen Nation gedeutet worden.“
Noch weiter geht der britische Hendrix-Biograph Charles Shaar Murray:
"It´s a political speech without words" - eine politische Rede ohne Worte.
Dafür spricht wenig, und sicher nicht der Künstler selbst. In einer Talkshow bezeichnet Hendrix wenig später, auch auf mehrfaches Nachfragen des Moderators, seine Version von „Star Spangled Banner“ als - „schön“.
Jimi Hendrix argumentiert ästhetisch. Aus ihm spricht ein Künstler auf der Höhe seiner Fähigkeiten, sich alles Mögliche anzuverwandeln, sogar die amerikanische Nationalhymne.

MUSIK Voodoo Chile
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Das ist Stück Nr 12 aus Jimi Hendrix setlist vom 18. August 1969: „Voodoo Chile“, ein Blues.
Hier erleben wir Jimi Hendrix im Kern seiner musikalischen Identität.
Der Blues ist auch das ungeschriebene Vorzeichen zum Titel dieser „Tandem“-Sendung: „Voodoo Chile - Jimi Hendrix und der Jazz“

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ZITAT MILES DAVIS
„Jimi Hendrix kam vom Blues. Genauso wie ich. Wir haben uns deswegen sofort verstanden. Er war ein großer Blues-Gitarrist".
(Miles Davis, in seiner Autobiografie)

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JEAN-PAUL BOURELLY
Ich bin ein großer Befürworter des Blues.
Ich meine jetzt nicht die Blues-Töne, ich meine die Fähigkeit zur Wehklage.
Ich meine diese sehr besondere Fähigkeit zu weinen.
„Ja, ich höre dein Jammern!“
Das ist eine grundlegende menschliche Erfahrung - und im Blues steckt sie ganz tief drinnen.
Es gibt eine ganze Menge Musiker, die können Blues-Songs spielen…
aber noch einmal: es geht um dieses Gefühl. Um diese Energie.Um diesen Sound.
Es geht darum, dieses Drama aus dem Instrument sprechen zu lassen.
Und Hendrix konnte das.
Und er konnte es umso mehr dank seiner Verstärker. Es gab Leute, die haben sich beklagt: „Das ist zu laut!“
Die haben überhaupt keine Ahnung, was Hendrix mit diesem Sound zum Ausdruck bringt. Er hat wesentlich zu dieser Kultur beigetragen.

Jean-Paul Bourelly, ein von Hendrix beeinflußter Gitarrist. Und zuvor Miles Davis - wir kommen auf beide noch zurück.

MUSIK Third Stone from the Sun (unterblenden für)
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Doch zunächst Jazz bei Jimi Hendrix selbst.
Seine eigentliche Karriere - die gerade mal vier Jahre währt, nach Jahren als Begleitmusiker in amerikanischen Rhythm & Blues-Bands - seine eigentliche Karriere beginnt im Herbst 1966 in London.
Und da swingt er z.B. von der ersten Minute. Kein Wunder, der Schlagzeuger seines Trios Jimi Hendrix Experience - Mitch Mitchell -, er kommt gerade von Georgie Fame & The Blue Flames -, Mitchell ist ein großer Elvin Jones-Fan, des Schlagzeugers von John Coltrane.

LOTHAR TRAMPERT
Was ist wahr, was ist Legende?
Wirklich definitiv wahr ist, das sind die Handvoll Original-Alben, die wir von Hendrix haben, und da kann man schon eine Menge raushören und auch was das Thema „Jazz“ angeht.
Wenn man überlegt, dass schon beim ersten Album „Are you experienced?“, was Ende ´66 aufgenommen wurde, mit „Third Stone from the Sun“ eigentlich eine sehr coole jazzige Nummer zu hören war, auf einem Album eines jungen Musikers, der zwei Singles glaube ich veröfffentlicht hatte und der zum Popstar gemacht werden sollte. Dann ist das schon bemerkenswert. Und das ist aber auch so ein Indiz für die Offenheit dieser Zeit.

Lothar Trampert Redakteur beim Fachmagazin „Gitarre & Baß“. Er hat vor 30  Jahren die erste deutsche musikwissenschaftliche Arbeit über Jimi Hendrix geschrieben. Eine Magisterarbeit. 

Als Buch ist sie vergriffen, liegt aber vor in leicht zugänglicher Form als Sonderheft von „Gitarre & Baß“: als „Jimi Hendrix ABC“.

LOTHAR TRAMPERT
Man muss erst mal wirklich am Instrument gut spielen. Und Hendrix konnte das auch mit einer Akustik-Gitarre. Er hat ja auch jahrelang als Begleitmusiker einfach nur eine Gitarre, sehr verschiedene Gitarrentypen übrigens, und einen Verstärker gehabt.
Und das war´s.
Und irgendwann tauchten dann mal gelegentlich Verzerrerpedale auf, erst später, im ersten Jahr seiner Londoner Pop-Karriere, kam das Wha Wha Pedal dazu, später das Univibe, ein modulierender Effekt.
Hat er jetzt alles nicht gebraucht, um gut zu spielen. Aber man muss auch mit diesen Effektgeräten gut spielen, um gut zu klingen.
Die Effektgeräte oder Verstärker oder bringen überhaupt nichts - es ist der Musiker am Instrument.

MUSIK Up from the Skies, 3:01
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Apropos Wha Wha Pedal, dieser Filtereffekt prägt „Up from the Skies“; aufgenommen im Oktober 1967, zu finden auf Hendrix´ zweitem Album „Axis, bold as Love“.
Das Stück ist vor allem jazz-mäßig interessant: es swingt ungeheuer!


MUSIK GRANT GREEN The Selma March

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Dem britischen Journalisten Keith Shadwick verdanken wir eine pfiffige Beobachtung: er verweist auf dieses Stück hier, auf „The Selma March“ von Grant Green. 1965.
Der Titel bezieht sich auf einen der großen Märsche der Bürgerrechtsbewegung im selben Jahr.

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cover grant green 2Ups. Haben Sie das bemerkt?
Da waren ein paar Töne aus „Up from the Skies“ von Jimi Hendrix!
Aber, von Grant Green! 1965 - zwei Jahre vor „Up from the Skies“!
Hat Hendrix geklaut - oder war das ein Zufall?
Wir wissen es nicht.
Es spricht manches für einen Zufall.
„The Selma March“ ist nicht gerade ein Meisterstück, es besteht seinerseits aus Klischees, es ist ein Genrestück, ein Stück Soul Jazz.
Diese Gattung wird Hendrix, der jahrelang quasi im Nachbarfeld sich aufgehalten hat, nicht gänzlich fremd geblieben sein. Hendrix hat obendrein viel mit Jazzmusikern gejamt: mit Larry Coryell, mit Roland Kirk, mit John McLaughlin und Dave Holland.

ZITAT JIMI HENDRIX
„Ich mag Charlie Mingus und diesen anderen Typen, der all die Blasinstrumente spielt: Roland Kirk. Ich mag außergewöhnlichen Jazz, nicht den üblichen Kram.
 Vieles davon klingt wie Blues auf Blasinstrumenten, darum liebe ich Free Jazz.

Wirklich mitreißende Sachen und nicht diese alten Hüte, wo alle aufstehen und dann stundenlang ´How high the Moon´ spielen - das ist ´ne echte Pest.“
Jimi Hendrix, 1967

MUSIK The Selma March (stößt auf):
MUSIK LONNIE SMITH TRIO Up from the Skies
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Was Jazzmusiker von Jimi Hendrix´ „Up from the Skies“ halten, wird 27 Jahre später deutlich.
Ein Trio um Lonnie Smith packt das Stück in klassischer Orgel-Trio-Besetzung als das an, was von der Struktur her sein könnte:
ein moderner Jazz-Klassiker.

MUSIK Machine Gun (Git-Solo)
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Jimi Hendrix Band Of Gypsys, 1. Januar 1970, Fillmore East, New York City.
Es gibt keine bessere Aufnahme, um eine weitere, wesentliche Verbindung von Hendrix zum Jazz zu dokumentieren: den Umfang und die Qualität der Improvisation.
Lothar Trampert, Musikwissenschaftler und Redakteur bei „Gitarre & Baß“:

LOTHAR TRAMPERT
Lothar Trampert 1
Wenn man seine Live-Aufnahmen anhört, hat er eigentlich Jazz gespielt.
Er hat nach dem klassischen Prinzip Thema-Improvisation-Thema agiert. In seiner späteren Phase haben seine Improvisationen viel mehr Raum eingenommen.
Band Of Gypsys ist ein gutes Beispiel. Und es war nicht das Standardmuster „jetzt spielen wir zwei Chorusse, und dann kommen wir wieder zusammen raus aus der Nummer“, sondern: dann ist was passiert, dann ging es 10 Minuten ab.
Das ist im Grunde genommen der Zeitgeist der mittleren, der späten 60er Jahre im Jazz gewesen.
Es gibt Hendrix-Momente, die sind irgendwie auch Coltrane-Momente.
Man weiß ja, dass Hendrix ein sehr interessierter Musiker war, und dass er auch bei Leuten in seinem Umfeld sehr viel verschiedene Musik gehört hat. Und er wusste, was andere Menschen gemacht haben in der Zeit. Und das wird ihn inspiriert haben.
Ich glaube aber, dass dazu kam - ähnlich wie Coltrane auch - er ein Freigeist war. Ich denke, Zeitgeist und Veranlagung haben sich da zum richtigen Zeitpunkt getroffen.


Hat Jimi Hendrix John Coltrane gekannt? Vielleicht sogar geschätzt?
Ein direkter Beleg dafür ist nicht bekannt, aber man kann davon ausgehen.
Denn es gibt einen indirekten Beleg: nämlich die Aussage eines gleichfalls sehr bekannten Jazzmusikers. Sein Name taucht am Schluss des folgenden Zitates auf.
Das Zitat ist dem neuen, dem zweiten Buch über Improvisation von Gary Peters entnommen.
Peters ist auch Gitarrist, er lehrt Philosophie an der Universität von Durham, in England.
Er lobt die Improvisationskunst von Jimi Hendrix - aber das, was er über dessen Begleiter sagt, dürfte umstritten sein.

ZITAT GARY PETERS
„Es fällt doch auf: wann immer ein Gitarrensolo von Hendrix seine Grenzen zu überwinden beginnt - sowohl im Hinblick auf die Dauer als auch auf seinen kreativen Atem - (dann) wird die Begleitband zunehmend und schließlich auch fast komplett unwichtig.
Nicht, dass diese Musiker nicht in der Lage wären, etwas Bedeutendes zu einer Improvisation beitragen zu können, die das übliche Vorführen eingeübter Tricks übersteigt. Aber die Einzigartigkeit - und man möchte schon sagen - die unbedingte Einsamkeit einer Hendrix´ Improvisation bedarf im besten Falle einer solchen Zuliefertung überhaupt nicht, egal ob von seiner unglücklichen Rhythmusgruppe oder von sonst irgend jemand.
Wäre sein Treffen mit Miles Davis in dieser Hinsicht anders verlaufen?
Wer weiß? - vermutlich nicht!“
(Gary Peters, in "Improvising Improvisation", 2017)

MUSIK Machine Gun stößt auf

MUSIK MILES DAVIS Mademoiselle Mabry
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Jimi Hendrix und Miles Davis - Gary Peters nimmt es schon vorweg -:
Die Beziehung beginnt am 24. September 1968, da nimmt Miles Davis dieses Stück hier auf: „Mademoiselle Mabry“.
Vom Titel her eine Widmung an seine damalige Freundin Betty Mabry, die wenig später - wenn auch nur von kurzer Dauer - seine Ehefrau werden würde.
Auch musikalisch ist Betty Mabry nicht unbeteiligt; sie war es, die Miles Davis auf Hendrix aufmerksam gemacht hat: auf seine Musik, aber auch auf seinen Kleidungsstil.
„Mademoiselle Mabry“ ist also eine doppelte Hommage von Miles an Jimi.
Wie durchtrieben Miles Davis dabei von „The Wind cries Mary“ Gebrauch macht und welch´ völlig anderen Ausdruck er damit erreicht, sei mit dieser kurzen Collage demonstriert:
aus „The Wind cries Mary“ und „Mademoiselle Mabry“.

MUSIK Collage Mademoiselle Mabry/The Wind cries Mary
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MUSIK MILES DAVIS Mademoiselle Mabry (weiter)
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ZITAT MILES DAVIS
„Die Burschen haben doch bis jetzt nicht viel vorzuweisen. Es ist leicht, drei Minuten lang auf einem Riff herumzureiten; aber wenn sie ein Solo spielen müssen, dann wissen sie nichts zu sagen.“
(Miles Davis, in der Washington Post vom 13. März 1969)

Diese Aussage ist erstaunlich. Im Frühjahr 1969 - wenige Monate vor seinem bahnbrechenden Album „Bitches Brew“, er verwendet schon seit 2 Jahren Rock-Rhythmen in seiner Musik - im Frühjahr 1969 äußert sich Miles Davis abfällig über Rockmusiker, zumindest über deren solistische Künste.
Aber, einen nimmt er aus. Es ist der, mit dem er sich mehrmals traf, auch in seinem Haus.

ZITAT MILES DAVIS
„Als ich aus dem Studio zu Hause anrief, um mit Jimi über meine Musik sprechen, fand ich heraus, dass er nicht Noten lesen kann. Ich kenne viele bedeutende Musiker, die ich respektiere und mit denen ich gespielt habe  - schwarz und weiß -, auf die das ebenfalls zutrifft. Das minderte mein Urteil über ihn nicht.
Jimi war ein großer, natürlicher Musiker, ein Autodidakt. Er schnappte Dinge auf von wem auch immer, und er tat das sehr schnell. Einmal gehört - schon hatte er es drauf.
In unseren Gesprächen haben ich ihm technischen Kram erklärt: „Jimi, weißt du, wenn du diesen verminderten Akkord spielst“- da sehe ich schon das Fragezeichen in seinem Gesicht und sage: „Ok, vergiss´ es!“
Ich spiele es ihm dann auf dem Klavier vor oder auf der Trompete, und er versteht es sofort. Er hatte ein natürliches Ohr.
Oder ich lege eine Platte von mir auf oder von Coltrane und erkläre, was wir da machen. Und er beginnt das, was ich ihm erzählt habe, auf seinen Alben zu verarbeiten. Wunderbar. Er beeinflusst mich, und ich beeinflusse ihn. Große Musik entsteht immer so.“
Miles Davis, in seiner Autobiografie

MUSIK LONNIE SMITH TRIO Jimi meets Miles
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„Jimi meets Miles“.
1996 macht sich der schon erwähnte Organist Lonnie Smith so seine Gedanken über das, was bekanntlich nicht stattgefunden hat.
Zwar hat „Jimi“ „Miles“ des öfteren getroffen - aber eben nicht zu Studioaufnahmen (sie scheiterten angeblich an einer Forderung von 50.000 Dollar durch letzteren).
Gleichwohl hat Miles Davis ein Treffen mit-initiiert, für das sogar ein Studiotermin gebucht war: ein Treffen von Hendrix mit Gil Evans, dem langjährigen Arrangeur von Miles Davis.
Eine Studiositzung, Arbeitstitel „Third Stone from the Sun“,  war gebucht für den 21. September 1970 - drei Tage zuvor verstarb Jimi Hendrix in London.

Gil Evans hatte von 1974 an, bis zu seinem Tod 1988, Hendrix-Bearbeitungen in seinem Repertoire.
Und die vielen anderen Sessions von Jimi Hendrix: mit Roland Kirk, mit John McLaughlin, mit Larry Young und anderen - sie wurden entweder nicht aufgezeichnet oder sie blieben musikalisch belanglos.
Das ist - heute - schwer nachvollziehbar bei einem so kontakt-freudigen Künstler wie Jimi Hendrix.
Aber, vielleicht überschätzen wir ja auch das „Über die Lager hinweg“-Denken jener Jahre.
Zwei Erklärungen führen in diese Richtung:


HENRY LOWTHER
Henry Lowther 1 1Es waren doch zwei recht unterschiedliche Lager damals. Damit will ich nicht sagen, die Jazzmusiker hätten keinerlei Wertschätzung für Jimi Hendrix gehabt, er war nur kein Gegenstand ihrer Debatte.
Er wurde ganz sicher diskutiert von den Musikern auf der anderen Seite des - sagen wir mal - unsichtbaren Zaunes.
Dort gibt es eine ganz andere Mentalität.
Nach meinen Beobachtungen waren die Rock- und Popmusiker immer auf kommerziellen Erfolg aus.  Wohingegen die Jazzmusiker davon ausgingen, dass es so etwas für sie mit Sicherheit nicht geben werde.
Wenn jemand so berühmt wurde wie zum Beispiel Jimi Hendrix, war das für die Musiker der Rockszene viel bedeutender als für die in der Jazzszene.
Wir in der Jazzwelt hatten damals immerhin jemanden wie John McLaughlin unter uns.
Ich habe mit ihm gespielt, in London - bevor Miles Davis ihn entdeckte.


Das ist Henry Lowther, heute 78 Jahre alt, eine Art „graue Eminenz“ des britischen Jazz. Er spielt Trompete und Violine - übrigens auch in Woodstock, mit der Keef Hartley Blues Band.
Henry Lowther hat in den 60ern in London wirklich mit jan und jederman gespielt, auch viel Rock.
Miles Davis hat ihn in Los Angeles später gefragt, wie denn das so sei: als Jazztrompeter Soli in einer Rockband zu spielen.

MUSIK JEAN-PAUL BOURELLY Restless
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ZITAT KEITH SHADWICK
„Während Hendrix sehr wohl grünes Licht sah für sein Aufsprengen musikalischer Ketten, indem er zu den wilden Ufern des Jazz jener Zeit herüberblickte, wußte in der Jazzszene niemand so recht etwas anzufangen mit dem, was Hendrix da vorgelegt hatte.
Es sollte Jahre dauern, bis seine Botschaft in der Jazzwelt verdaut und angemessen aufgegriffen wurde.
(Keith Shadwick, im englischen Magazin „Jazzwise“)

Wenn das zutrifft, was Keith Shadwick hier beschreibt, dann müssen wir uns die nun schon lange anhaltende Attraktivität von Jimi Hendrix im Jazz vorstellen als  entstanden durch eine Zeitverzögerung.
Lothar Trampert vom Magazin „Gitarre & Baß“ kommt zu einer ähnlichen Einschätzung:


LOTHAR TRAMPERT
Hendrix hat in seiner kurzen Zeit als öffentlicher Musiker Jazz, Blues, E-Musik-Einflüsse, natürlich Popmusikalisches und sehr eigenwillige energetische Rockmusik, bis ins Geräuschhafte gehend, verbunden. Und diese Art von Offenheit sehe ich in der Nachfolge eher bei Jazzgitarristen als bei Rockgitarristen.
Bei Rockgitarristen gab´s Eddie van Halen, der hatte als trademark das Tapping.
Daran erkennt man ihn.
Dann haben wir Jeff Beck, er hat als trademark, Jeff Beck zu sein. Hat einen ganz eigenen Sound, daran erkennt man ihn.
Hendrix war aber mehr als ein bisschen Wha-Wha und Feedback - Hendrix war eine neue Welt des Gitarrenspiels.

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Die Attraktivität von Jimi Hendrix unter Jazzgitarristen: nach der Rock-Perspektive nun eine Betrachtung aus der Jazzgeschichte. Autor ist Richard Williams, ein bedeutender britischer Musikjournalist, ein paar Jahre lang auch Leiter des Jazzfest Berlin.

ZITAT RICHARD WILLIAMS
Der Gitarrist, der diese radikalen und weitreichenden Veränderungen ins Rollen brachte, war Jimi Hendrix. Als er im Jahr 1966 nach seiner Ankunft aus New York in London Furore machte, schien er zunächst nichts mit dem Jazz zu tun zu haben. Sein Spiel wirkte sich vielmehr unmittelbar auf seine Zeitgenoss*innen in der Rock’n’Roll-Szene aus, gleich zu Beginn vor allem auf Eric Clapton. Als aber Jazzmusiker*innen begannen, sich die Rhythmen und Strukturen des Rock anzueignen, wurde klar, dass die Hendrix’schen Verzerrungen und andere elektronische Effekte einen Weg für sie darstellten, sich von einer Entwicklungsfolge zu befreien, die von Lonnie Johnson in den 1920ern über Charlie Christian in den 1940ern bis zu Wes Montgomery in den 1960er-Jahren reichte.
Richard Williams im Programmheft zum Jazzfest Berlin, 2018

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Die Musik, die wir nun schon eine Zeitlang hören - ein schwerer Blues-Shuffle - stammt, nein nicht von Jimi Hendrix. Sie illustriert die Thesen, die wir gerade gehört haben.
Das ist Musik von Jean-Paul Bourelly, geboren 1960 an der Southside in Chicago.
Bourelly spielt die Gitarre häufig Hendrix-nah, vielen gilt er deshalb als „keeper of the flame“ - als Erbe, wenn auch in einem anderen Genre.

MUSIK JEAN-PAUL BOURELLY The Spirit Wheel
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JEAN-PAUL BOURELLY
JP Bourelly

 

 

 

Foto
Michael Palm

 

 

Nein, nein, ich spiele viele Noten, die Hendrix nicht gespielt hat. (amüsiert)
Die Strukturen, in die hinein ich mich bewege, waren nicht die seinen.
Wenn manche mich als Hendrix-Erbe betrachten, dann deshalb, weil sie mich irgendwie in einen größeren Bezugsrahmen stellen wollen.
Wenn ihnen das hilft - okay; es kann einem kaum etwas Besseres passieren, als mit Jimi verglichen zu werden.
Aber, es ist einfach nicht präzise genug.
Nun gut, ich habe ein paar tributes an ihn produziert.
Aber, wenn man zum Beispiel „Boom Bop Trance Atlantic“ heranzieht - das hat nichts mit Hendrix zu tun. Das ist was anderes, das ist eine neue Musik.
Natürlich kann man seinen Einfluss hören - aber ich spreche doch eine andere Sprache.

Jean-Paul Bourelly, ein Stück aus dem von ihm angesprochenen Album „Boom Bop Trance Atlantic“, aus dem Jahre 1997.

MUSIK GERI ALLEN/THE BATSON BROTHERS The Wind cries Mary
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ZITAT BRIAN ENO
„Hendrix war einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und in dieser Eigenschaft viel zu wenig anerkannt.“                    

Und es braucht keine Gitarre, um Jimi Hendrix zu interpretieren; es geht auch - wie der Titel dieses Album nahelegt - mit „Three Pianos for Jimi“. Die Batson Brothers mit der vor 2 Jahren verstorbenen großen Jazzpianistin Geri Allen.

LOTHAR TRAMPERT
Natürlich: die Kompositionen!
Er hat gute Songs geschrieben; Songs, die auch ohne Texte funktionieren; die aber - was die musikalischen Themen angeht - eigentlich nicht so spektakulär waren wie seine Umsetzung des eigenen Materials.
Aber das ist jetzt schon mal ein guter Ansatz, wenn andere Künstler daran gehen. Dann kommt ein Streichquartett und sagt: „Wir machen´s jetzt auch mal!“
(MUSIK KRONOS QUARTET Purple Haze)

Das ist im Grunde genommen eine Annäherung, die viel von Hendrix hat. Hendrix hat ja auch „All along the Watchtower“ von Bob Dylan gespielt, „Like a rolling Stone“. „Hey Joe“ ist auch keine Hendrix-Komposition.
Er hat aber die Songs auf eine Art zu seiner eigenen Musik gemacht. Das schaffen auch Leute wie Bourelly, wie Vernon Reid, das schaffen auch Leute wie Christy Doran. Und viele andere.

MUSIK CHRISTY DORAN Up from the Skies, 1994
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Das ist der von Lothar Trampert bereits angesprochene Christy Doran, 1949 geboren in Dublin, seit seiner Kindheit in Luzern lebend.
Doran ist ein Phänomen: als Gitarrist steht er Hendrix recht fern - hat aber drei Tribut-Alben produziert.
Und immer mit wechselnden Kunstgriffen: „Up from the Skies“, 1994, lässt er swingen wie das Original, ja - aber der Rhythmus hat zugleich auch eine Reggae-Anmutung.

CHRISTY DORAN
christy doran 1 1

 

 

 

 

 

 

Foto
Franziska Pfeffer

 

Ich bin natürlich schon mehr fokussiert auf meine eigene Musik. Bei der ersten Platte war es so, dass mich Werner X. Uehlinger von Hat Hut Records gefragt hat:
„Mach´ doch mal ein Projekt nicht mit deiner eigenen Musik, sondern tu´ doch mal was interpretieren!“
Die Hendrix-Geschicht ist ja eine Interpretation. Das war gar nicht die Intention, da irgendetwas nachzuäffen. Die Idee kam eigentlich von Werner. Und der hat nicht den Hendrix ins Spiel gebracht, das war ich. Ich habe gedacht: ja, die Musik von Charlie Parker oder von John Coltrane, in den 90er Jahren gab´s viele Projekte damit. Für mich war der Hendrix wichtiger als solche Leute.

MUSIK CHRISTY DORAN Fire, 2004
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Christy Doran interpretiert Jimi Hendrix Nummer zwei, 2004. „Fire“.
Doran kitzelt den swing-Faktor im Original von 1967 deutlich heraus, mit Hilfe einer Jazztechnik namens walking bass - und legt noch eine Spur drum´n´bass oben drauf! Die Sängerin ist Erika Stucky.

MUSIK CHRISTY DORAN Up from the Skies, 2015
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Und noch einmal Christy Doran mit u.a. Erika Stucky, jetzt 2015.
Und nun entzieht er „Up from the Skies“, dem swing-Klassiker von Jimi Hendrix das - scheinbar - Wichtigste: den swing. Und es funktioniert immer noch!

CHRISTY DORAN
Die Songs gefallen mir eigentlich. Das ist für mich inspirierend. Das ist für mich einfach, was draus zu machen. Andere Musiker oder Komponisten, die kennt man auch, das wäre vielleicht auch möglich. Aber bei Hendrix geht mir das (leicht?) von den Fingern.

Jazzmusiker interpretieren Jimi Hendrix, Jazzmusiker sind von Jimi Hendrix beeinflusst - das könnte noch stundenlang so weitergehen…
Dieses SWR2 TANDEM muss sich aber vorher ausklinken - mit einem Knaller.
Und das ist der Knaller: der vietnamesische, in Paris geborene Jazzgitarrist Nguyen Lé verpflanzt „Voodoo Chile“ von Jimi Hendrix - sozusagen unser „Titelstück“ bei Tandem - nach Marokko, in die Musik der Berber.
Am Mikrofon verabschiedet sich Michael Rüsenberg.

MUSIK NGUYEN LE Voodoo Chile Slight Return
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*geringfügig erweiterte Fassung

© Michael Rüsenberg, 2019
Alle Rechte vorbehalten